Jüngst stieß ich auf einen von mir für freitag.de verfassten Kommentar zu 19 Jahren Einheit und war peinlich berührt. Da stand gleich am Anfang, die Wut sei einem gründlicher abhandengekommen als Schlager-Süßtafeln, Täve Schur und die Aktuelle Kamera: „Sie ist versunken im Diskursbrei oder wurde weggeblasen, als wir uns wieder ein Stück durch den Windstromkanal quälten, der unsere Entwicklung zum Neuen Menschen testet: wie eloquent und nichtssagend sind wir schon?“
Das klingt zwar alles angebracht, gehört aber ins Abklingbecken des Erregungsverzichts und resignativen Realismus. Wozu muss einem der ewig gleiche Psalm von den Lippen tropfen? Die Einheit ist schließlich vollendet, ein gesellschaftlicher Aggregatzustand, wie das Wasser ein natürlicher. Das soll kein Werturteil sein, eher eine Zustandsbeschreibung, die einem irreversiblen Vorgang gilt. Da der DDR mit dem Regimewechsel 1989/90 die politische Selbstbestimmung abhandenkam, unterwarf sie das einem fremdbestimmten Systemwechsel, der in perfekter – eben vollendender – Weise funktioniert hat. Ökonomische Verhältnisse, inklusive ihrer materiellen Träger, der Betriebe und Belegschaften, so gründlich abzuräumen, das taugt zum Muster und offenbart Brachialität, wenn politischer Wille die Flanken deckt.
Dem Kapitalismus wird oft geraten, um zu überleben, müsse er aufhören, er selbst zu sein. Im Ostdeutschland hat eine oktroyierte Wirtschaftsordnung zeigen dürfen, was in ihr steckt, wenn sie sein darf, wie sie will. Insofern ist die entstandene, in der Regel folgenlos beklagte Kluft zwischen West und Ost kein Kollateralschaden einer radikalen Transformation, sondern Konsequenz derselben. Dies war sicher nicht verabredet, aber darauf angelegt, dass es ausging, wie es kam. Ein müßiges Unterfangen, deshalb entrüstet das Alphabet der Klassenunterschiede in der Hoffnung auf ihr Verschwinden herzusagen. Konzernzentralen werden so wenig en masse in den Osten ziehen, wie ostdeutsche Kader demnächst in DAX-Unternehmen, Hochschulen, Justizverwaltungen oder Bundesregierungen das Sagen haben, vom Produktivitätsgefälle oder dem Manko bei Renten, Einkommen und Besitztümern ganz zu schweigen. Was soll sich daran ändern?
Der Westen dürfte kaum auf Stagnation bedacht sein, damit der Osten gleichzieht. Der Status quo wird von Dauer, bestenfalls kein ewiger sein. Die Frage ist eher, wie lange noch werden die politische Kultur und das soziale Leistungsvermögen aushalten, was ihnen seit drei Jahrzehnten aus Gründen der Staatsräson und des Systemerhalts abverlangt wird? Waren das womöglich die besten Jahre der Einheit? Beschlich den seelsorgerisch veranlagten Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker eine Ahnung, als er in seiner Rede am 3. Oktober 1990 ermahnte, „sich zu vereinen, heißt teilen lernen“?
Das Dilemma dieses Tugendappells bestand weniger darin, dass von Weizsäcker anregte, was nicht zu halten war, sondern wissen musste, dass daraus nichts werden konnte. Es kam ein wenig, eigentlich ganz erheblich anders. Die Einheit erlaubte das anmutige Joggen in Mauerpark und Morgentau, aber sie hielt auch viel vom Aufblättern der Grundbücher, um klarzustellen, was auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung so alles passieren konnte. Es war niemandem verwehrt, wie beim Fall der Mauer auch dann noch „Wahnsinn, Wahnsinn!“ zu rufen. Die Demokratie hielt das locker aus, sie hatte nichts dagegen und ihren Anteil daran, dass nach der „friedlichen Revolution“ von 1989 auch die Gegenrevolution im Jahr darauf friedlich blieb. Und wer wollte es schon riskieren, sie als solche zu erkennen oder gar beim Namen zu nennen?
Genau darin besteht die Lektion dieser drei Jahrzehnte. Nie wieder darf die Unbelehrbarkeit der Emotionen dazu missbraucht werden, die Weichen für das soziale und mentale Dasein einer ganzen Region so alternativlos zu stellen, wie das 1990 der Fall war. Nie wieder darf einförmiges Denken zum Diktat erstarren. Nicht noch einmal sollte bei einem Gesellschaftsumbau Macht so unwirsch und ungezügelt ausgespielt werden, wie das der zum Abwicklungsschrott erklärten DDR durch die Autoritäten des westdeutschen Staates wie der Treuhandanstalt widerfuhr. Dass die Regierung de Maizière einem erzwungenen und selbst verschuldeten Souveränitätsverlust verfiel, war für die Menschen im Osten ein Verhängnis sondergleichen. Spätestens am 18. März 1990, dem Tag der Volkskammerwahl, hatten sie damit jede Kontrolle über ihr Einheitsgeschick verloren.
Egal, was künftig in diesem Land an Zäsuren ansteht – eine derartige Missachtung von Gerechtigkeit und Würde sollte abschrecken. Ob es sich um eine von der Digitalisierung getragene Modernisierung des Gemeinwesens handelt oder einen ökologischen Prämissen gehorchenden ökonomischen Strukturwandel, der Ressourcen- und Klimaschutz genügt – überall sind Menschen betroffen, keine Objekte, die ergeben hinzunehmen haben, was ihnen zugedacht ist. Es würde daher von einem unbändigen Lernwillen zeugen und das Jahr 1990 bewältigen helfen, würde ein Einheitsdenkmal nicht allein Berlin auferlegt, sondern Bonn Gleiches zugemutet. Auf diese Weise wäre den einst dort residierenden Verursachern und Vollstreckern Geltung verschafft, die sich um eine Einheit der Restauration verdient gemacht haben. Das käme nicht allein der Erinnerung zugute, es könnte Mahnung sein.
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