So kündigen sie sich an – die vierte und fünfte Führungsgeneration nach Gründung der Volksrepublik 1949. Es sind die Geschehnisse vor 30 Jahren, der Aufstand in Peking und der Aufruhr auf dem Tiananmen-Platz, die ein inneres Beben auslösen, wie es seit der Kulturrevolution Mitte der 1960er beispiellos ist. Der Geschichtsstrom reißt ein Land mit sich fort, brandet an vermeintlich befestigte Ufer, droht sie zu fluten. Wer danach die Kommunistische Partei Chinas als Generalsekretär führt, hat verinnerlicht, dass ein innerer Konflikt mit derart heftigen Ausschlägen auf einer nach oben offenen Eskalationsskala für alle Zeit verhindert gehört.
Parteichef Jiang Zemin, berufen, als Anfang Juni 1989 die Volksbefreiungsarmee nicht das Land, sondern dessen Führung verteidigt, präsentiert in seiner bis 2002 reichenden Amtszeit als programmatisches Credo die „moderate Wohlstandsgesellschaft“, in der jeder aufsteigen kann. Nachfolger Hu Jintao (2002 bis 2012) stellt unter diffusem, aber erkennbarem Bezug auf den Philosophen Konfuzius (551 – 479 v. u. Z.) und dessen Theorie von einer zivilisierten Gemeinschaft die „harmonische Gesellschaft“ in den Vordergrund. Xi Jinping (im Amt ab 2012) wagt im Zeichen innerer Stabilität – als Bedingung für deren Erhalt – den Ausfallschritt in die Weltmächtigkeit.
Korruption und Protest
Jiang, Hu und Xi eint das Bewusstsein, dass eine ständig wachsende Gesellschaft (heute fast 1,4 Milliarden Menschen) nicht vom Ökonomismus allein leben kann. Sie braucht steten sozialen Ausgleich durch mehr Wohlstand, eine nichtwestliche geistige Kultur und patriotischen Spirit, ermöglicht durch eine weitsichtige, nie zurückweichende Führung. Dieses Tableau antizipiert Erkenntnisse, wie sie das erste Jahrzehnt der Reformpolitik geradezu erzwungen hat. Die damit ausgelösten Widersprüche erreichten im Frühjahr 1989 die Grenze des Beherrschbaren, was diverse Ursachen, aber einen entscheidenden Grund hatte: die Dichotomie von ökonomischem Pragmatismus und politischer Selbstverleugnung.
So gewagt die Ende 1978 angestoßenen Wirtschaftsreformen anmuteten, so gedämpft klang ihr ideologischer Begleitchor. Was geschah, passierte im Namen des Maoismus und hatte doch mit dessen Dogmen wenig zu tun. Wo inhaltliche Logik fehlte, kam robuste Machtlogik zum Vorschein. Die KP Chinas wollte ihr Führungsmonopol durch die Reformpolitik erneuern, nicht erschüttern. Zu Lebzeiten Mao Zedongs (1893 – 1976) war als „revisionistische Entgleisung“ geächtet worden, was nun als „sozialistische Marktwirtschaft“ heraufdämmerte. Die von Deng Xiaoping, dem geistigen Oberhaupt des Umschwungs, verordneten „vier Modernisierungen“ – der Landwirtschaft, des Staates, der Industrie, der Armee – wurden auf dem XII. Parteitag 1982 durch die „vier Grundprinzipien“ ergänzt: den sozialistischen Weg, die Diktatur des Proletariats, die führende Rolle der KP, die Ideen Mao Zedongs.
Gegen diese Camouflage regte sich Ende 1986 erstmals Widerstand, nicht irgendwo, sondern auf dem Campus der Peking-Universität, als Studenten die sich einbürgernde Korruption der Reformgewinner beklagten und bei aller Öffnung nach außen mehr Sinn für Demokratie im Inneren verlangten. Bevor das Ganze virulent werden konnte, suchte KP-Generalsekretär Hu Yaobang den Dialog mit den Wortführern und besänftigte durch Versprechen. Der Protest verebbte, ohne zu versiegen, während Hu wegen „kompromisslerischen Verhaltens“ sein Amt verlor.
Als er am 15. April 1989 stirbt, wird das zum Anlass erneuten Aufbegehrens, diesmal in der Südprovinz Guangdong, in Städten wie Hefei, Shanghai und Peking, hier erneut auf dem Gelände der Universität, bald aber vor den Toren der Verbotenen Stadt, auf dem Tiananmen-Platz. Dessen Weite bevölkern immer mehr Studenten und Schüler, die Petitionen verfassen, hungerstreiken, nicht mehr weichen. Am 26. April reagiert erstmals das Parteiorgan Renmin Ribao (Volkszeitung), nicht durch eine versteckte Notiz, sondern mit einem Leitartikel, der die Proteste als „Aufruhr“ bezeichnet. Bald gibt es wieder einen, offenbar vom Politbüro nicht gebilligten Verständigungsversuch durch einen KP-Generalsekretär, den Hu-Nachfolger Zhao Ziyang. Mit dem Megafon in der Hand steht er am 19. Mai unter den Studenten, lobt ihren „leidenschaftlichen Patriotismus“ – und bestreitet seinen letzten öffentlichen Auftritt. Ende Mai spricht Renmin Ribao von einer „konterrevolutionären Rebellion“, womit kaum mehr Zweifel bestehen, dass der Staat notfalls auf die gewaltsame Lösung setzt. Konterrevolutionär heißt staatsfeindlich.
Deng warnt vor dem Chaos
Um 4. Juni schließlich wird der Tiananmen-Platz von Einheiten der Volksbefreiungsarmee geräumt, ohne dass es Opfer gibt. Es sind die Straßenkämpfe in mehreren hauptstädtischen Vierteln, bei denen – so nie bestätigte Zahlen – etwa 2.600 Aufständische, viele Unbeteiligte und mehr als 200 Soldaten sterben.
Am 9. Juni, fünf Tage danach, spricht Deng Xiaoping vor Truppenkommandeuren – nicht dem KP-Politbüro – von der Rettung vor Zerfall und Chaos. Es vergehen gut zwei Wochen, bis Renmin Ribao am 24. Juni die Rede nachdruckt und die Nachrichtenagentur Xinhua Auszüge zitiert. Dabei fällt auf, dass die Aussage, China müsse „unter allen Umständen“ an der Reformpolitik festhalten und dürfe „niemals wieder in ein abgeschlossenes Land“ verwandelt werden, die komprimierte Wiedergabe einleitet, bei Deng jedoch erst im Schlussteil des „programmatischen Vortrags“ (Xinhua) zu finden ist. Gleiches gilt für das apodiktisch gefärbte Bekenntnis: „Wir dürfen niemals wieder zu alten Tagen zurückkehren, in denen wir die Wirtschaft zu Tode getrampelt haben.“ Wie einst durch die Wirren der Kulturrevolution? Sie steht als reaktionäre Utopie im Raum, auch wenn nicht explizit davon die Rede ist.
Seit 1978 haben konservative Kader wie Parlamentspräsident Peng Zhen, Ex-Propagandachef Deng Liqun, später Premierminiter Li Peng, häufig vor „geistiger Verschmutzung“ und „westlicher Entartung“ gewarnt. Nicht auszuschließen, dass sie die Gunst der Stunde nutzen, um eine maoistische Restauration voranzutreiben, die sich marktwirtschaftlicher Katharsis dort widersetzt, wo sie den Regimewechsel provozieren kann. Nur wer müsste das dulden, wenn nicht die Streitkräfte? Vor den Kommandeuren formuliert Deng das Eingeständnis, „schwerstes Versäumnis“ des vergangenen Jahrzehnts sei die vernachlässigte „politische Erziehung“ gewesen. Das beziehe sich nicht nur „auf Schüler und Studenten, sondern die Massen insgesamt“. Was nach Selbstkritik klingt – Deng ist immerhin Vorsitzender der Zentralen Militärkommission, in der Partei- und Staatsmacht zusammenfließen. Umso mehr billigt er den Sturz des konsenswilligen KP-Generalsekretärs Zhao Ziyang, der wegen „spalterischer Umtriebe“ bis zu seinem Tod 2005 unter Hausarrest stehen wird.
Um die politische Konsequenz des Aufstandes von 1989 zu erfassen, bietet sich die Formel an: Die Reformpolitik verliert ihre Unschuld, gilt aber fortan als unumkehrbar. 1997 bestätigen das die Delegierten des XV. KP-Kongresses, indem neben den Ideen Mao Zedongs und dem Marxismus-Leninismus die „Theorie Deng Xiaopings“ in die statuarisch verankerte Programmatik der Partei aufgenommen wird.
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