Erinnerungen können täuschen. Sie sind wie Folien, die über Geschichte - vor allem selbst erlebte - gelegt werden, damit sich die zuweilen grellen Originalfarben zu sanften Pastelltönen wandeln, die einen versöhnenden Blick verlangen. Deshalb können Erinnerungen niemals Geschichte ersetzen. Bestenfalls sind sie als Annäherungen brauchbar, die für eine Verklärung zeitgeschichtlicher Vorgänge ebenso viel Raum lassen wie für deren Verurteilung. Entschieden wird in "historischen Situationen" nun einmal unter dem Eindruck unmittelbaren Erlebens wie unter dem Diktat von Erfahrung, Wahrheit und Irrtum, aber auch der Ungewissheit darüber, was die nächste Stunde bringt - selten aber mit Blick auf spätere Deutungen, die es fertig bringen, Entscheidungen so aus ihren geschichtlichen Angeln zu reißen, dass nur die Entscheidung an sich übrig bleibt. Schon Cervantes meinte, Geschichtsfälschung sei mindestens genauso schlimm wie Falschmünzerei.
Die PDS-Führung wird sich daher nach ihrer Erklärung vom Montag vor allem eine Frage gefallen lassen müssen: Sollte sie nach ihrem Machtwort zum 13. August 1961 und zu den mehr als 28 Jahren bis zum 9. November 1989, in denen der lähmende Pressverband gegen des Ausbluten kaum gelockert wurde, nicht ein ebenso klares Urteil über den Sozialismus in der DDR fällen? Mediale Jagdlust wird ihr diesen Skalp gern abtrotzen wollen, zumal die Gelegenheit vor den Berliner Wahlen so günstig scheint wie nie. Gewiss war schon der Berliner Wendeparteitag vom Dezember 1989 in dieser Hinsicht eindeutig, indem er sich zur stalinistischen Entartung des DDR-Systems äußerte - aber die damalige Analyse wurde vorrangig als Erklärung für die existenzgefährdende Krise der DDR gebraucht, deren Untergang noch nicht besiegelt schien.
Wenn ein Staat, der seine Bürger einsperrte, "weder demokratisch noch sozialistisch" war, wie es nun in der Vorstandserklärung vom 2. Juli heißt, welche Qualitäten kann der überhaupt noch reklamieren? Muss hier die Unerbittlichkeit des historischen Verdikts von Zimmer, Claus und Bartsch nicht ebenso greifen? Was hindert die PDS-Spitze daran? Man könnte es sich leicht machen und über Rücksichten spekulieren, die auf Anhänger und Wähler im Osten (gewiss auch im Westen) zu nehmen sind. Auf Zeitgenossen, die nach dem Sinn ihrer Lebensleistung fragen und vieles seinerzeit - vor und nach 1961 - anders erlebt haben, als es sich heute darstellt. Die sich möglicherweise sogar noch daran erinnern wollen, dass der DDR vom Westen absolut nichts geschenkt wurde und nichts geschenkt worden wäre, hätte sie sich als demokratisch-sozialistischer Musterstaat geriert.
Aber es geht wohl um mehr als Wähler und Mitglieder. Es geht um die seit 1989 flächendeckend und forciert betriebene Delegitimierung des Sozialismus-Versuchs auf deutschem Boden, für die nun ein Punkt erreicht sein könnte, an dem auch die PDS dafür instrumentalisierbar scheint. Das allerdings berührt den "sozialistischen Lebensnerv" der Partei. So sehr die Erklärung vom 2. Juli gerade hier um Glaubwürdigkeit ringt - so sehr läuft sie Gefahr, genau die zu untergraben.
Denn wer die Mauer und das DDR-Grenzregime verurteilt, entgeht der Frage nicht: Warum hat man es unter den für jedermann erkennbar misslichen Umständen im Oktober 1949 im Osten Deutschlands überhaupt versucht, an eine gesellschaftliche Alternative zu denken? Im Nacken die stalinistisch geprägte Großmacht, die noch nie den Fuß soweit in der europäischen Tür hatte wie nach dem 8. Mai 1945 - in Blickweite eine verbrannte Kraterlandschaft namens Nation, die im 20. Jahrhundert zuviel verbrochen hatte, um auch weiterhin ein ungebrochenes Existenzrecht beanspruchen zu können. (Das war kein kommunistisches Dogma, sondern zuallererst Überzeugung alliierter Siegermächte.)
Hätte man 1949 im Osten Deutschlands lieber kapitulieren sollen, damit die Idee des Sozialismus keinen Schaden nahm? Immerhin widmet sich die Vorstandserklärung einen Absatz lang "der Unterlegenheit des stalinistisch geprägten Sozialismustyps in der DDR gegenüber dem realen damaligen Kapitalismustyp in der Bundesrepublik" zum Zeitpunkt des Mauerbaus. Aber auch ein "nichtstalinistischer Sozialismustyp" - so utopisch er unter sowjetischem Patronat blieb - wäre dem "damaligen Kapitalismustyp" BRD kaum "überlegen" gewesen. Schließlich scheiterte die DDR nicht vorrangig an ihrem zwiespältigen Wertesystem, sondern an ökonomischer Ineffizienz. Und die heutige kapitalistische Marktwirtschaft ist nicht deswegen ökonomisch effizient, weil alle einander in Humanität, Solidarität und Gerechtigkeit zugetan, sondern diese Prinzipien im Wirtschaftsleben obsolet sind.
Zweifellos kann die PDS bei der SPD besonders dann auf mehr Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft hoffen, wenn sie sich mit einem "theoretischen Sozialismus" begnügt, der die Weihen der Praxis vorerst nicht zu fürchten braucht. Warum Wasser in den Messwein gießen? Warum Geschichte riskieren, die an eigener, wieder gefundener Unschuld zehrt. Genau das aber sollte der 13. August 1961 nicht als Lehre bereit halten, dass Sozialismus-Vorstellungen nur noch geduldet werden, sobald sie von der Idee zum Ideal mutieren und nicht länger praktikabel sind. Natürlich kann leichtes Marschgepäck vor Wahlterminen sehr verlockend und auch ausreichend sein - doch es reicht unter Umständen wirklich nur bis zum nächsten Wahltag.
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