Noble Gesten

Staatsbesuch Tayyip Erdogan wird als Partner hofiert, damit Europa an der Flüchtlingskrise nicht verzweifelt und zerbricht – obwohl er die Türkei mit politischer Willkür regiert
Ausgabe 41/2015
Tayyip Erdogan wird von Jean-Claude Juncker am 5 Oktober in Brüssel geradezu freundschaftlich empfangen
Tayyip Erdogan wird von Jean-Claude Juncker am 5 Oktober in Brüssel geradezu freundschaftlich empfangen

Foto: Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

Ein Schulterklopfen musste reichen. Kuss und Umarmung blieben dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan zumindest vor den Fernsehkameras erspart. Ungeachtet dessen war der Umgang mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim Treffen in Brüssel locker, jovial, teilweise herzlich. Als würden sich Freunde begegnen, deren Einvernehmen über jeden Zweifel erhaben ist. Erdogan könnte Juncker wie auch den EU-Ratspräsidenten Donald Tusk getrost als Wahlhelfer verpflichten. Sie schenken ihm die Aura des Staatsmanns und vergessen das Autoritäre eines Staatschefs, dem seine Machtfülle noch immer nicht reicht.

Eben deshalb lässt Erdogan am 1. November innerhalb von fünf Monaten zum zweiten Mal wählen, damit er und seine AKP die verlorene absolute Mehrheit nicht länger entbehren. Normalerweise stößt es in der EU-Zentrale auf Unbehagen, wenn politische Willkür demokratische Rechte beugt. Doch was soll man den Sultan rügen, wenn man den Sozius braucht? Erdogan wird als Partner hofiert, damit Europa an der Flüchtlingskrise nicht verzweifelt und zerbricht. Die Türkei soll den Menschenstrom aus Syrien und dem Irak stärker regulieren und eindämmen. Wenn die EU ihre Außengrenzen besser schützt, wie es heißt, soll das Ankara genauso handhaben. Juncker und Tusk erledigen, worauf Angela Merkel und François Hollande lieber verzichten. Die EU-Spitze sucht das Arrangement mit einem Staat, der als System nicht EU-kompatibel ist. Nur was zählen Werte, wenn sie Interessen schaden? Gegen diese Abwägung ist niemand gefeit. Die EU schon gar nicht, auch wenn der 2012 verliehene Friedensnobelpreis das Gegenteil suggeriert.

Die Frage ist nur, mit wem man sich einlässt. Tayyip Erdogan trägt eine Mitschuld am desolaten Zustand einer ganzen Region. Er träumt seit 2011 den Traum von der neo-osmanischen Regionalmacht Türkei, der ein islamisiertes Syrien zu Diensten ist. Und er lässt die Armee seit Wochen nicht nur die kurdische PKK, sondern auch die kurdische Bevölkerung im eigenen Land beschießen und bombardieren. Das fördert den Eindruck, hier sorgt jemand dafür, dass Menschen vor Gewalt, Zerstörung und Not fliehen müssen. Sollte nicht zuallererst Friedensstifter sein, mit wem die EU in der Flüchtlingsfrage kooperiert?

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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