Grenzen sind nicht nur Schlagbaum, Stachel- und Stolperdraht, sondern auch Eingeständnisse. Sie offenbaren, wie Regierungen damit umgehen, dass zuweilen die Angst um den Frieden und vor territorialem Verlust in ihren Ländern wühlt. Gemeinhin werden zuerst Grenzen überschritten oder – wie es dann heißt – „überrannt“, wenn Staaten unter die Kriegsfuchtel fallen.
Durch Grenzen wird zur Kenntnis genommen, dass ökonomische Kräfte versiegen und soziale Wohlfahrt keine Selbstverständlichkeit ist, das Handelsinteressen gewahrt und Binnenmärkte geschützt sein wollen, damit einheimische Produzenten ein Auskommen haben. Grenzen sollen Abwanderung oder Einwanderung drosseln oder ganz aufhalten. Die ab August 1961 endgü
Die ab August 1961 endgültig geschlossene DDR-Grenze zu Westberlin war ein Pressverband gegen das Ausbluten des zweiten deutschen Staates, der in existenzieller Not handelte, weil sonst Destabilisierung und Zusammenbruch drohten. Zwischen Nord- und Südkorea ist die Grenze bis heute eine Waffenstillstands- und Frontlinie. Die USA und Mexiko, Nord- und Zentralamerika trennt eine Wirtschafts- und Armutsgrenze, an der geschossen und gestorben wird. Geschlossene Grenzen zollen dem einen oder anderen oder auch vielen der hier genannten Umstände Tribut. Offene Grenzen muss man sich leisten können. Für eine Mega-EU der 28 Staaten, von denen bei weitem nicht alle am Schengen-Systems teilnehmen, ist das augenblicklich nicht der Fall. Wäre es anders, hätte im Entwurf für die Abschlusserklärung des jüngsten Brüsseler Gipfels nicht der Satz gestanden: „Die Balkanroute ist geschlossen.“ Was nichts weiter sein sollte als Tatsachenbeschreibung oder ein Akt des verbalisierten Realismus. Auf deutschen Wunsch wurde die Formulierung abgeschwächt. Zu Unrecht, wie sich inzwischen zeigt. Die bewusste Route der Hilfe- und Zufluchtsuchenden in Richtung Mitteleuropa ist in der Wochenmitte noch verriegelter als zu Wochenbeginn. Die Balkanroute ist definitiv geschlossen. Den Osten freisprechenSloweniens Regierung hat soeben angekündigt, dem mazedonischen Beispiel zu folgen und nur noch Menschen mit gültigen Pässen und Visa einreisen zu lassen. Ähnlich gedenkt Serbien zu verfahren, das seine Grenzen zu Bulgarien und Mazedonien abschottet.Auch wenn die EU-Kommission den ehrgeizigen Plan verfolgt, bis Jahresende das Schengen-Regime wieder anzufahren, falls es bis dahin überlebt, sind Zweifel angebracht, ob das gelingt. Die EU-Spitzen hegen sie augenscheinlich auch. Warum sonst würden sie sich derart hingebungsvoll türkischen Auflagen für ein Flüchtlingsarrangement fügen und über alles hinwegsehen, was dazu veranlassen sollte, den Sozius mit spitzen Fingern anzufassen? Auch die NATO-Mission in der Ägäis rührt aus dem Wissen um die Unwägbarkeiten, denen Schengen ausgesetzt bleibt. Also wird zwischen der Türkei und Griechenland ein Teil der EU-Außengrenze geschlossen, damit die Grenzen in der EU wieder geöffnet werden, auf mittlere Sicht zumindest. Wann wird das sein? Vermutlich, wenn die Migrationsbewegungen deutlich abgenommen haben, und der EU-Osten definitiv von jeder Kontingentlösung freigesprochen ist. Bis dahin sind offene Grenzen obsolet– für das Gros der osteuropäischen EU-Mitglieder und -Anwärter eine Conditio sine qua non.Wenn der Wind wehtFür viele Deutsche (West) dürfte das eine so bittere wie heilsame Erfahrung sein, sie hatten sich Europa in einem Anflug von polyglottem Hedonismus als Ersatzvaterland schön gereist. Und es war Volker Kauder, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, der sich 2011 – im Zenit der Eurokrise – gedrängt fühlte, einen Trend zur Verdeutschung der europäischen Nachbarschaft auszumachen und in den Satz zu fassen: „Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen.“ Nun weht eine andere Welt in das kontinentale Kuschelbiotop von Erasmus-Stipendiaten und Europa-Phantasten. Man muss zur Kenntnis nehmen, die offenen Grenzen sind alles andere als ein Phänomen gerechtfertigter Selbstverständlichkeiten. Der EU-Zuwachs im Osten war nun einmal nicht entzückt, als ihm statt der versprochenen grenzlosen Freiheitssphäre mit dem EU-Beitritt die Einweisung in einen ziemlich neoliberalen Wirtschaftsraum widerfuhr, der die weniger Leistungsfähigen und sozial Schwachen so zu Kostgängern degradiert und an soziale Grenzen stoßen lässt. Letztere haben den Vorteil, ohne Schlagbaum und Stacheldraht auszukommen. Schmerzhaft sind sie trotzdem.Es gilt, Abschied zu nehmenWer sich vor diesem Hintergrund die Ergebnisse des jüngsten EU-Gipfels vergegenwärtigt, mag zu dem Schluss kommen: Für die EU ist der sich abzeichnenden Deal mit Ankara weniger Schande als Standortbestimmung, mehr Selbstbestätigung als Selbstverleugnung. Dieses mögliche Agreement beschreibt den Zustand, in dem sich das mutmaßlich vereinte Europa von einigen Irrtümern und Illusionen über seinen Intergationsstatus verabschieden muss. Ob daraus gelernt wird, erscheint zweifelhaft. Um es mit dem Philosophen Giorgio Agamben zu sagen, dieses Europa muss kollabieren, um nicht unterzugehen.