Offener Brief an Scholz: Der Geist und die Geisterfahrer

Kampagne Für Prominente wie Alice Schwarzer, Martin Walser, Lars Eidinger und andere besteht derzeit die höchste moralische Verantwortung darin, einen Weltkrieg zu verhindern. Sie haben es verdient, nicht diffamiert zu werden
Geheime Unterlagen oder offene Briefe? Bundeskanzler Olaf Scholz schaut in seine Mappe.
Geheime Unterlagen oder offene Briefe? Bundeskanzler Olaf Scholz schaut in seine Mappe.

Foto: Jens Krick/Pool/Getty Images

Wie verpönt ist doch Vernunft, wenn sie in Kriegszeiten ein Minimum an rhetorischer Mäßigung oder an Realitätssinn nahelegt. Da hat sie ausgesorgt und kann getrost abdanken. Wenn Prominente wie Alice Schwarzer, Martin Walser, Lars Eidinger, Alexander Kluge (und mittlerweile 150.000 Unterstützer) in einem Offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz Bedenken, Sorgen und Ängste wegen der deutschen Ukraine-Politik äußern, ist ihnen Ungemach gewiss. Sie werden weniger ernst- als Maß genommen. So die überwiegende mediale und politische Reaktion, seit dieses Schreiben zirkuliert und die Gemüter erregt. Statt sich auf die vorgetragenen Argumente einzulassen, werden deren Anwälte nach Kräften denunziert – als Putin-Propagandisten (Anton Hofreiter) oder Wahnsinnige (Konstantin Kuhle, FDP) diffamiert. Aber so ist es immer gewesen: Kassandra war vor dem Untergang noch nie populär. Und danach nicht mehr auffindbar.

Kategorischer Imperativ

Die Hinweise mehren sich seit Wochen, wie der Umgang mit dem Ukraine-Krieg die politische und Debatten-Kultur verdirbt, wenn nicht vergiftet. Welche Risiken die Lieferung schwerer Waffen und demnächst die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschem Territorium (vorerst durch US-Trainer) birgt, steht außer Frage. Warum darf das Lavieren entlang der roten Linie eines Kriegseintritts – ob bewusst gewollt oder leichtfertig provoziert – nicht in aller Deutlichkeit hinterfragt werden? Und wenn augenblicklich soviel von moralischer Verantwortung die Rede ist – muss die sich nicht daran messen lassen, ob und wie sie die Geisterfahrt in Richtung nuklearer Weltkrieg aufhält? Besser: Wahnsinn gar nicht erst zulässt? Das sollte der tonangebende kategorische Imperativ in Politik und Öffentlichkeit sein. Man kann sich einen Krieg immer schönreden, solange einem Langemarck erspart bleibt, und die anderen durch Blut, Dreck, Elend und Sterben waten.

Die ukrainische Führung tut viel, um nicht zu sagen: fast alles, um sich eines westlichen Beistandes zu versichern, der die rote Linie überquert, weil nur so aggressiver russischer Militärmacht aussichtsreich Paroli geboten werden kann. Nur wenn die USA, die NATO, der Westen, auch Deutschland, ins Feld ziehen, kann Russland besiegt werden, lautet die sich daraus ergebende Konsequenz. Sie besteht in einem Dritten, auch mit Kernwaffen geführten Weltkrieg. Was dabei von der Welt übrigbleibt, scheint nicht die Frage zu sein.

Aller Ehren wert

Die Unterzeichner des Offenen Briefs haben vor Augen, was nicht vorstellbar, aber denkbar ist. Sie nehmen den Hang zur Revanche und Rache gegenüber Moskau als existenzielle Bedrohung wahr. Wenn sie dagegen Widerspruch einlegen, ist das mehr als berechtigt und aller Ehren wert. Kanzler Olaf Scholz könnte sich dadurch, wenn er es denn wollte, in seiner bedachtsamen Vorsicht unterstützt sehen. Auf jeden Fall wird er durch den Offenen Brief an seinen Amtseid erinnert, den er wie ebenso die Mitglieder seines Kabinetts geleistet haben. Sie haben geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.

Wenn man es beim russischen Präsidenten mit dem aggressiven und skrupellosen Diktator zu tun hat, als der er in Deutschland – nicht erst seit dem 24. Februar – hingestellt wird, ist ihm alles zuzutrauen. Dann wird gerade in Berlin durch die Ampelkoalition sowie CDU/CSU einiges getan, was dem eigenen Volk zum Nachteil gereichen und schaden wird.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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