Der Kontrollverlust

Abkommen Die Kündigung der INF-Verträge zwischen Russland und den USA ist eine bedrohliche Annäherung an die Urkatastrophe
Ausgabe 43/2018
Michail Gorbatschow und Ronald Reagan beim Gipfeltreffen in Washington im Dezember 1987
Michail Gorbatschow und Ronald Reagan beim Gipfeltreffen in Washington im Dezember 1987

Jerome Delay/AFP/Getty Images

In wenigen Tagen wird es 100 Jahre her sein, dass an der Westfront der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Die Erinnerung daran dürfte die Frage streifen, wie es zu den Jahren des großen Sterbens kommen konnte. Ein Aufmarsch der mehr als zehn Millionen Kriegstoten würde elf Tage und elf Nächte dauern, sollte er mit der gleichen Geschwindigkeit und in der gleichen Marschformation über die Pariser Champs-Élysées führen wie die Siegesparade der Alliierten am 14. Juli 1919.

Vielleicht wird bei der gedanklichen Annäherung an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts von akutem Kontrollverlust der Politik die Rede sein, die im Sommer 1914 die Staaten Europas ins Verderben driften ließ. Keiner wollte vor der Macht des Schicksals kleinmütig erscheinen und auf Frieden versessen sein. Es gibt bekanntlich „historische Augenblicke“, in denen Krisenbewusstsein gegen herrschende Sitten verstößt, weil es die unwiderrufliche Zerstörbarkeit des Menschen reklamiert.

Der derzeitige US-Präsident scheint dagegen besonders immun zu sein. Erst hat Donald Trump den Pariser Klima-, dann den Iran-Atomvertrag geschluckt. Und noch immer ist er so unersättlich wie der Herr Jakob Schmidt in Brechts Mahagonny. Dort grunzt der Vielfraß: „Jetzt hab ich gegessen zwei Kälber, und jetzt esse ich noch ein Kalb.“ Eigentlich fräße sich Schmidt gerne selber. Wozu es nicht kommt, weil ihn beim dritten Kalb der Schlag trifft. Was Trump niemand wünscht, auch wenn er sich nun über den INF-Vertrag hermacht, das 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion ausgehandelte Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen, das 1990 immerhin einen Epochenwechsel überstand. INF Lebewohl zu sagen, würde atomares Wettrüsten in einer Weise anfeuern, dass es auch um das New-START-Abkommen geschehen sein könnte, das 2020 ausläuft.

Wie noch nie seit 1963 – als ein erstes Teststopp-Agreement zustande kam – könnte eine Welt hochgerüsteter, teils gegnerischer Kernwaffenmächte in einen vertragslosen Zustand geraten und – wiederum – Kontrollverlust die Folge sein. Die Nähe zwischen 1914 und 2018 wird auch dann spürbar, wenn Akteure so handeln wie Trump, obwohl das eine Katastrophe auslösen kann. Sie handeln trotzdem und in der Überzeugung, ebendiese Möglichkeit werde ihnen Vorteile verschaffen und sich gegenüber Rivalen wie Russland oder China auszahlen. Ein solches Kalkül birgt umso größere Gefahren, je mehr ein Grundvertrauen zwischen den beteiligten Staaten fehlt. Das war 1914 zwischen Deutschland und Frankreich wie Deutschland und dem Russischen Reich der Fall – und ist heute kaum anders. Zwischen Russland und dem Westen, aber auch den USA und China besteht weniger Vertrauen als zu Zeiten des Kalten Krieges. Da erzwangen Verhandlungsformate wie die MBFR-Gespräche über konventionelle Rüstung oder die INF- und START-Sondierungen über Kernwaffen die Begegnung von Ost und West. Sie galten ausdrücklich als vertrauensbildende Sphäre. Im Moment ist selbst der NATO-Russland-Rat stillgelegt, der Abrüstung noch nicht einmal aushandeln, bestenfalls anbahnen kann.

Es wurde 1914 zum Verhängnis, dass patriotische Stimmungen die Zügel freigaben für eine Politik, die im Zeichen eines nationalen Hochmuts Geschichte schreiben wollte. Auch davon ist so manches in die Gegenwart vorgedrungen und sichert Donald Trump Prestige und Präsidentschaft. Womit noch nicht alles zu spät sein muss, weil Geschichte auch beflügeln kann, ihren Lektionen zu glauben und zu vertrauen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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