Ohne Füße kann ich zu dir gehen

Passion Der Defa-Film „Die Verlobte“ von 1980 erzählt vom kommunistischen Kampf gegen Hitler und von Liebe, die alles Leid überdauert
Ausgabe 29/2019

Die Hölle des Zuchthauses – wird sie Hella Lindau jemals wieder hergeben? Als Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe zu zehn Jahren Haft verurteilt, muss sie im Sommer 1934 ihre Strafe antreten und gerät umgehend in das Räderwerk seelenloser Abrechnung. Das geblümte Sommerkleid, ihre weißen Schuhe, der Lippenstift, die silberne Halskette, ein Geschenk ihres Verlobten Hermann Reimers, alles wandert in den großen Hanfsack. Übrig bleibt die Strafgefangene Lindau im Kattun der Anstalt, mit weißer Schürze, schwarz-weiß gewürfeltem Schal und der Nummer 47. Ist alles verpackt, wird der Sack zur Decke gezogen und verschwindet. Die Wärterinnen bedeuten Hella, was da entschwebt, werde sie kaum je wieder brauchen. Gemeint ist: nie wieder. Zehn Jahre im NS-Strafvollzug, wie soll das eine Frau überstehen, eine Kommunistin zumal, die Strafen und Schikanen gewärtig sein muss?

Mit dem Sturz in den Abgrund beginnt der 1980 gedrehte Defa-Spielfilm Die Verlobte, der sich nicht auf eine erfundene Geschichte stützt, sondern auf die Erinnerungsbücher Haus der schweren Tore und Leben, wo gestorben wird der einstigen Widerständlerin Eva Lippold berufen kann.

Dem Schicksal der in der DDR als Lyrikerin lebenden Lippold verdankt sich die Passionsgeschichte einer leidenden, liebenden, verzweifelten, verstörten, mutigen „Verlobten“, die 25 ist, als sich die schweren Tore hinter ihr schließen. Anfangs muss Hella für zwei Jahre in Einzelhaft, wie eine Schließerin genüsslich verkündet, um dann auf der Handfläche die vier großen B – Beschäftigung, Briefe, Besuche, Bücher – aufzumalen und wegzublasen wie lästigen Staub. Aus und vorbei, sieh zu, wie du das verkraftest, eingeschlossen in die Friedhofsruhe einer gefesselten Zeit mit den immer gleichen kalkgrauen Wänden ringsherum, dem vergitterten Mond da draußen, hoch oben.

Als Die Verlobte fast abgedreht ist, befürchten die Regisseure Günther Rücker und Günter Reisch, Hellas Martyrium im Zuchthaus wirke zu tragisch, zu deprimierend, sei zu schwer. Man müsse sie auch als das zeigen, was sie war, bevor die blutroten Roben ihr Urteil fällten. Man erinnert sich einer Probeaufnahme mit den Hauptdarstellern Jutta Wachowiak (Hella) und Regimantas Adomaitis (Reimers), die eine Episode aus dem Sommer 1932 erzählt, als Hella ihrem späteren Verlobten zu verstehen gibt, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlt. „Ich habe dich dreimal gesehen. Das erste Mal hast du über Astronomie gesprochen. Ich habe fast alles verstanden, das zweite Mal über Geschichte, Luther, und dann habe ich dich noch mal singen gehört – Ännchen von Tharau. Mit dem arbeiten, habe ich gedacht.“ Sie lesen ein Gedicht von Rilke: „Lösch mir die Augen aus, ich kann dich sehen. Wirf mir die Ohren zu: Ich kann dich hören, und ohne Füße kann ich zu dir gehen, und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.“

Die Verlobte meidet eine Machart antifaschistischer Filme der Defa wie des DDR-Fernsehens, die es bis dahin nur allzu häufig mit der Monumentalität des Heroen-Epos halten. Maßstäbe dafür gesetzt haben Slatan Dudow mit Stärker als die Nacht (1954) oder Kurt Maetzig mit der zweiteiligen Thälmann-Saga Sohn seiner Klasse und Führer seiner Klasse (1954/55), auch Frank Beyer mit der Verfilmung (1963) des Buchenwald-Romans Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz, beherrscht vom Wer-wen des KZ-Alltags.

Abgebildet wird ein nach menschlichem Ermessen übermenschliches Maß an Aufopferung, geprägt von einer für die frühe DDR charakteristischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Doch rührt jene cineastische Erzählweise gleichsam aus historischen Tatsachen, die es künstlerisch zu würdigen gilt. Zwischen 1933 und 1945 wurde in Deutschland niemand sonst so unerbittlich verfolgt wie die deutschen Kommunisten. Von den gut 300.000 KPD-Mitgliedern (Stand Januar 1933) kamen 150.000 während der Nazidiktatur mindestens einmal in Haft, etwa 20.000 wurden in SA-Kellern erschlagen, in Konzentrationslagern ermordet, zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Filme darüber hatten den Faschismus anzuklagen und Mahnung zu sein, im Sinne des Brecht-Wortes aus Arturo Ui: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Unverkennbar überwiegt die Absicht, aus dem kommunistischen Widerstand Legitimation zu schöpfen, um im Kalten Krieg einer Delegitimation der von Kommunisten geführten DDR und ihres Sozialismus entgegenzutreten.

Intime Anmut

Wie gelingt das mit einem Film wie Die Verlobte, der sich – möchte man fast sagen – „beschränkt“ auf die Szenen einer Dasein und Tod überdauernden Liebe, die sich erfüllt, weil sie unerfüllbar ist? Eine Szene lässt das äußerst eindrucksvoll erfahren. Nachdem es mehrfach im allerletzten Moment verboten wurde, darf Reimers seine Verlobte nach drei Jahren der Trennung endlich im Zuchthaus besuchen.

Hella versetzt das in schwindelnde Erregung, aufgestauter, bestürzender Schmerz will davonströmen, weg von ihr. Sie steht auf der Stiege zum Besucherraum – „und ohne Füße kann ich zu dir gehen“ –, eine Wärterin schreit: „Die Strafgefangene Lindau!“ Hellas Lippen zucken, aber sie kann nicht sprechen. Ihr Schluchzen ist ein Würgen, als wollte sie den Schrei ersticken. Die Hände streicheln die Anstaltsschürze, den Schal mit der 47 – „und ohne Mund noch kann ich dich beschwören“ –, sie bricht zusammen, kann nicht schreien, nur wimmern. Reimers muss gehen.

Schon über Eva Lippolds Büchern lag die Frage: Wie kann es jemand schaffen, seine Verletzbarkeit, Zartheit und Liebe gegen das hunderttausendfache Ab- und Ausschreiten von Zelleneinsamkeit zu verteidigen, gegen Jahre in der Anstaltswäscherei zwischen Mörderinnen und Zuhälterinnen und Aufseherinnen, die kein Mitgefühl kennen? Muss man sich im Leiden disziplinieren, damit es erträglich ist?

Ertragen hilft, die Stärke aufzubringen, eigener Schwäche nachzugeben. Haushalten mit Ekel und Empörung heißt aushalten. Keine Kraft vergeuden, die zum Überleben gebraucht wird.

Dass der Film diese Botschaften nie ausspart, verschafft ihm eine intime Anmut, die Heroismus nicht bestreitet, sondern begründet. Vom Gewinn an Glaubwürdigkeit ganz zu schweigen. Zugleich entfallen Szenen, in denen Hella und Reimers zu spruchbandartigem weltanschaulichen Bekenntnis gebeten sind. Was sie riskieren, spricht für sich. Als ihr ein paar Bücher aus der Anstaltsbibliothek zugestanden werden, entscheidet sich Hella für Gedichtbände von Rilke und Morgenstern, dazu Ernst Haeckels Welträtsel.

Hermann Reimers wird hingerichtet, als die Rote Armee schon vor Berlin steht. Eine mit Stacheldraht verriegelte Straßenbahn fährt zum Schafott. Stunden zuvor hat es eine Wärterin ermöglicht, dass sich die Liebenden noch einmal umarmen. Hella kriecht hinter Hermanns Handschellen, um ihn zu spüren.

Wie der ganze Film taugt auch dieser Schluss nicht zur Apotheose. Auf der Treppe, die sie gerade noch zu ihrem Verlobten herabgestiegen ist, zieht Hella ihr Sommerkleid wieder an, dazu die Schuhe, legt die Kette um, nimmt den Lippenstift, hat ein um mehr als zehn Jahre gealtertes Gesicht und singt, nein, haucht das Lied: „Der Liebste ist gekommen und tritt durchs Tor herein, da schneit es rote Rosen, da schneit es rote Rosen und regnet kühlen Wein.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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