Als Friedensnobelpreisträger wäre Barack Obama berufen, General Petraeus heftig in die Parade zu fahren, wenn der dem Krieg am Hindukusch gute Überlebenschancen einräumt. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte müsste er seinen Oberkommandierenden in Afghanistan zur Ordnung rufen, wenn der den Abzugstermin für Juli 2011 in Frage stellt und die Autorität des Weißen Hauses untergräbt. Als Präsident scheint er sich all das zu verkneifen. Weil er nach Stanley McChrystal nicht innerhalb von acht Wochen den nächsten General feuern kann? Sicher fällt auch ins Gewicht, dass Petraeus von anderem Kaliber ist als sein Vorgänger und mehr Rückhalt in der US-Armeeführung besitzt. Entscheidender aber ist der Umstand, dass David Petraeus in seinem Interview für den Kanal NBC die geltende US-Exit-Strategie einem Praxistest unterzieht, der auf einen Tauglichkeitscheck hinausläuft. Sein Befund: Weil die USA und ihre Alliierten diesen Krieg in absehbarer Zeit nicht gewinnen werden, können sie ihn um so weniger vorzeitig beenden.
Petraeus qualifiziert Obamas West-Point-Rede vom 2. Dezember 2009, als vor den Kadetten der dortigen Militärakademie ausdrücklich von einem Abzugstermin Mitte 2011 die Rede war, als Wunschdenken, das er mit einem realpolitischen – weil militärischen – Korrektiv versieht. Die seinerzeit verkündete befristete Verstärkung des US-Afghanistan-Korps um 30.000 Mann hat bislang weniger gebracht als erwartet. Der Aufstand gegen die Besatzung ist auch unter dem Druck einer noch angewachsenen strategischen und technologischen Übermacht nicht zusammengebrochen. Darauf hoffen, dass es bis Juli 2011 soweit kommt, wenn diese Präsenz wieder schrumpfen soll, will Petraeus offenbar nicht. Hoffnungen sind das Letzte, worauf sich der Westen am Hindukusch verlassen sollte, aber immer mehr verlässt, weil die Wirklichkeit dieses Jahrhundert-Krieges zu einer Wahrheit zwingt, die in den Entsende-Staaten der NATO-Kombattanten nicht zu vermitteln ist. Sie lautet: Bevor Afghanistan geräumt wird, müssen die Aufständischen militärisch gebrochen und ihres Gestaltungswillens soweit beraubt sein, dass Afghanistans politisches System nicht in kurzer Zeit radikal islamisiert wird. Das Gerede über erneute terroristische Basen ist vordergründig und reine Camouflage.
Es geht um die Glaubwürdigkeit des Westens und die Frage, ob man es sich leisten kann, aus diesem Kräftemessen mit der islamischen Herausforderung als deren Steigbügelhalter herauszugehen. In Südvietnam wurde zwischen 1965 und 1973 gekämpft, um – wie es die US-Präsidenten von Kennedy bis Nixon beteuerten – die "Ausbreitung des Kommunismus" in Südostasien zu verhindern. Doch waren die Vietnamesen mehr Patrioten als Kommunisten und wollten ihren Anspruch auf Selbstbestimmung respektiert wissen. Als sich das Land nach 1975 wiedervereinigte und sozialistisch nannte, war profanes Überleben in zerstörten Landschaften mehr gefragt als Revolutionsexport nach Thailand oder Singapur. Eine Bedrohung der USA ging vom kriegsversehrten Vietnam erst recht nicht aus. 1973 die US-Kampftruppen abzuziehen, war eine Niederlage, aber geostrategisch genau genommen irrelevant.
Im Fall Afghanistan wäre das sehr viel anders. Dort zu gehen und einen politischen Islam zur erneuten Begründung eines Kalifat einzuladen, wäre ein Eingeständnis: Der Westen hat sich in eine Schlacht geworfen, der er nicht gewachsen ist. Und dies aus Gründen, wie sie die islamischen Prediger nimmermüde benennen: Dekadenz, Herrschsucht, Selbstüberschätzung! Bleibt Afghanistan sich selbst überlassen – was geschieht dann im Jemen, in Somalia? Am Horn von Afrika? Im Sudan und in Nordafrika? Vor allem in Pakistan?
General Petraeus hat die Zweifel eines Militärs angemeldet, aber tatsächlich eine eminent politische Frage aufgeworfen.
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