Die Fallhöhe der Ereignisse wirkt einigermaßen schwindelerregend. Erstmals hat es in der Meerenge von Kertsch direkte Kampfhandlungen zwischen ukrainischen und russischen Militärs gegeben. Es war insofern alles andere als keine Floskel, bei diesem Konflikt vor der nach oben offenen Eskalationsskala zu warnen. Vor der Halbinsel Krim wird die Konfrontation zwischen Kiew und Moskau in ein sehr viel grelleres Licht getaucht als entlang der Front in der Ostukraine. Durchaus möglich, dass die Regierung in Kiew damit einen Kurswechsel einleitet, um die Krim-Frage über den Donbass-Krieg zu stellen.
Merkel und Putin
Was nur gelingen kann, falls die Schutzmächte mitspielen. Die USA, Deutschland, Frankreich, die EU und die NATO müssten sich dafür vereinnahmen lassen, Russland dort zu attackieren, wo es eine für sein nationales Vermächtnis unwiderrufliche Entscheidung getroffen hat – die Krim mit dem Rückhalt einer Mehrheit der dortigen Bevölkerung in die Russische Föderation zu holen. Wer das in Frage stellt, gibt nach Moskauer Lesart eine Kriegserklärung ab. Eben das dürfte Wladimir Putin gemeint haben, aus dessen Telefonat mit Angela Merkel nach dem Kertsch-Zwischenfall die Bitte zitiert wird, die Kanzlerin möge mäßigend auf Präsident Poroschenko einwirken. Was das Verlangen einschließt, sich durch das Kiewer Kalkül weder vereinnahmen noch treiben zu lassen.
Bisher freilich bezeugen die Reaktionen im Westen eher das Gegenteil, wenn NATO-Generalsekretär Stoltenberg auf eine aggressive Rhetorik gegenüber Moskau setzt und einmal mehr den Aufrüstungsdrall der Allianz zu legitimieren sucht. Andererseits hat sich die EU der Forderung des ukrainischen Außenministers Klimkin widersetzt, verschärfte Sanktionen zu verhängen und damit auf Repressionen zu setzen, die seit 2014 den erwünschten Erfolgt schuldig bleiben. Überdies dürfte niemandem entgangen sein, dass Petro Poroschenko im Wahlkampf steht und dank des für zunächst 30 Tage verhängten Kriegsrechts die Versammlungs- und Medienfreiheit stunden kann. Dieses „bisschen“ Diktatur vor dem demokratischen Votum ist kein marginaler Umstand. Wohl auch deshalb stimmten von den 450 Abgeordneten im Parlament lediglich 276 für den Antrag der Regierung, die sich mit dem Dekret erhebliche Vollmachten verschafft.
Präsident Poroschenko hat allen Grund, als Oligarch den Oberpatrioten zu geben. Umfragewerte von zuletzt zehn Prozent versprechen für die Abstimmung am 31. März keine Wiederwahl. Besser liegende Gegner wie Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko (20 %) oder Ex-Energieminister Jurij Bojko (12 %) vom Oppositionsblock denken laut über ein anderes Verhältnis zu Russland nach. Sollte Deutschland – aus der Vormaidan-Zeit geübt im Sympathisieren mit Timoschenko – nicht besser dieser Fraktion Beistand gönnen, um dem Fiasko einer verfahrenen Ukraine-Politik zu entkommen?
Seerecht und Völkerrecht
Damit unverzüglich zu beginnen, kann im Moment nur eines heißen: losgelöst von der Statusdebatte über die Krim verifizierbare Regeln für die Schifffahrt zwischen Schwarzem und Asowschem Meer auszuhandeln. Dabei verdient Beachtung, dass Russland für die Brücke von Kertsch, durch die seit Mai das russische Festland mit der Krim verbunden wird, besondere Sicherheitsmaßnahmen getroffen hat. Durch die Blockade der ukrainischen Behörden ist die Strom- und Wasserversorgung der Halbinsel seit Monaten erheblich gestört, was den Stellenwert dieser Brücke als Versorgungstrasse erst recht unterstreicht. Sie zu sichern, heißt aus Moskauer Sicht die Krim vor Schäden zu bewahren. Das bedeutet auch, eine Konfrontation dort zu vermeiden, wo sie schnell außer Kontrolle geraten kann.
Überdies kann der Anrainerstaat Russland in der Meerenge von Kertsch sehr wohl Hoheitsrechte geltend machen. Nirgendwo steht geschrieben, dass internationales Seerecht für Russland storniert ist, weil mit der Krim-Annexion Völkerrecht gebrochen wurde. Diese Art von Sanktion kann kein Sicherheitsrat, kein Europäischer Rat und niemand sonst verhängen.
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