P.S. Günter de Bruyn

Würdigung War dieser Künstler ein „bürgerlicher Schriftsteller“ in der DDR, wie ihm das die Nachrufe attestieren? Wird das seinem Werk vor und nach 1989 gerecht?
Günter de Bruyn war in der DDR kein Außenseiter, sondern skeptischer und beteiligter Beobachter
Günter de Bruyn war in der DDR kein Außenseiter, sondern skeptischer und beteiligter Beobachter

Foto: imago images/epd

„Ich bin ein spätbürgerlicher Schriftsteller, was könnte ich als Schriftsteller auch anderes sein“, stellte sich Stephan Hermlin im Mai 1978 auf einem Schriftsteller-Kongress der DDR ein überraschendes Zeugnis aus. Es schien Herkunft und Vita in Frage zu stellen, folglich erntete Hermlin Unverständnis und Widerspruch, auch wenn allenthalben klar war, dass er sich mit seinem Urteil gegen Angriffe zur Wehr setzte, die ihn wegen des Einspruchs gegen die Biermann-Ausbürgerung als „bürgerlichen Künstler“ diffamierten. Hätte sich Günter de Bruyn vor dem gleichen Auditorium einen „bürgerlichen Schriftsteller“ genannt, wäre ihm beifälliges Nicken zuteil geworden?

Der am 4. Oktober im Alter von 93 Jahren verstorbene Autor konnte für sich in der DDR einen Status geltend machen, der dem eines auf bürgerliche Traditionen und Werte bedachten Aufklärers entsprach. Doch blieb er stets zurückhaltend, wollte nie ein Dissident sein oder sich als Gegner der DDR zu erkennen geben.

Der letzte Roman

Womöglich wird es Günter de Bruyn am ehesten gerecht, wenn man ihn als einen Zeitgenossen begreift, der die Epochen und Zeiten an sich vorüberziehen ließ, um davon inspiriert zu werden, ohne auf allzu große Urteilsmacht bedacht zu sein. War er ein bürgerlicher Schriftsteller, dann nach 1990 einer, der die im Osten restaurierten bürgerlichen Lebenswelten mit dem gleichen Argwohn mustern konnte, den er schon zu Lebzeiten der DDR nicht ablegen wollte.

Nach fast 30 Jahren der Abstinenz legt de Bruyn 2018 als 91-Jähriger mit Der neunzigste Geburtstag nochmals einen Roman vor, der sicher kein Vermächtnis sein soll, auch wenn manche der darin getroffenen Aussagen dies vermuten lassen, zumal die Fabel autobiographisch grundiert ist. Allerdings bleibt der häufig altersweise anmutende Erzählstil schuldig, was als entspannte Prosa aus Buridans Esel (1968) oder Neue Herrlichkeit (1984) vertraut und geschätzt war.

Unverkennbar ist, dass als künstlerischer wie als Lebensepilog verstanden sein will, was der Autor in seinem Buch über ein Jahr hinweg im brandenburgischen Ort Wittenhagen als Handlungsfaden aufnimmt und abspult. Die „Dorfälteste“ Hedwig Leydenfrost steht vor dem 90. Geburtstag, ihre Vita legt nahe, dass sie einst zu den Gründern der Grünen Partei gehört hat und als „Hedy“ zu den Ikonen der Bewegung zählt.

Nach dem Ende der DDR aus dem Westen auf das 1945 enteignete, nach 1990 wiedergewonnene märkische Anwesen der Eltern zurückgekehrt, will „Hedy“ ihr Fest zum Bekenntnisakt umwidmen. Wer als Gast antritt, soll kein Geschenk, sondern eine Spende abgeben, um der Willkommenskultur für Flüchtlinge materielle Hilfe angedeihen zu lassen – die Geschichte setzt ein im Spätsommer 2015.

Verhalten, aber deutlich

Leo“ Leydenfrost, der um weniges jüngere Bruder der Jubilarin, unterstützt das Ansinnen zunächst wenn nicht leidenschaftlich, so doch aus familiärer Loyalität, die wachsendem Unmut weicht, je näher der Festtag rückt. Besonders die Bekanntschaft und Begegnungen mit „Hedys“ Parteifreundinnen lassen ihn politische Verstiegenheit erfahren, die erzieherische Attitüden nicht ausspart.

Im Roman ist es ein Brief, gerichtet an eine dieser Flügeladjutantinnen des Fortschritts, in dem „Leo“ – und mit im sein alter ego de Bruyn – seinem Unbehagen Ausdruck gibt. Es heißt darin: „Wer die Kurzlebigkeit politischer Grundsätze und Meinungen schon oft hat erleben müssen, wird früher oder später einmal, und sei es auch nur um der Selbstachtung willen, alles als korrekt bezeichnete Vorgedachte zum Teufel wünschen und sich des eignen Verstandes zu bedienen versuchen, also die Vernunft walten lassen ...“

Misstrauen gegen dogmatische Denkmuster hat de Bruyn nie verhehlt weder in seinen Gegenwartsromanen, von denen ein Teil bis 1989 in Ost und West erschien, noch den Büchern über das klassische Preußen, das er mit der Anteilnahme und Akribie eines Theodor Fontane – wenn auch nicht dessen erzählerischer Abgeklärtheit – durchforstet hat.

Zum Schluss indes scheint ihm das Schreiben kaum mehr Kraftquell und Lebenselixier gewesen zu sein, sondern Projektionsfläche für Resignation und Skepsis. Der bürgerliche Traditionalist gönnt der neobürgerlichen Gesellschaft, wie er sie sah, verhaltene, aber deutliche Auskünfte. Er nimmt sich mit dem Buch Der neunzigste Geburtstag das Recht auf ein letztes Wort. Ob es lange nachhallt, steht zu bezweifeln.

Frisierte Geschichte

Mitte der 1990er Jahre sprach de Bruyn von seinem „relativen Außenseitertum“ in der DDR, das ihn freilich nicht außerhalb der DDR-Gesellschaft stehen ließ. Wie seine Erzählungen und Romane offenbaren, kannte und durchschaute er sie zu gut, um glaubhaft versichern zu können, nur randständiger Beobachter gewesen zu sein.

Wie er zu schildern verstand, was ihn bewegte, zeigt nicht zuletzt die 1978 erschienene Erzählung Märkische Forschungen. Mit der Figur des Professors Menzel, eines prominenten Historikers aus der DDR-Nomenklatura mit gelegentlicher Präsenz im Professorenkolleg des DDR-Fernsehens, gelingt de Bruyn der Prototyp des etablierten Aufsteigers. Menzel sagt von sich: „Freunde und Frauen kann man zurücklassen, aber seinen Ehrgeiz nicht.“

Also rühmt er sich der Wiederentdeckung eines vergessenen Dichters aus der Mark – des Lyrikers, Essayisten, progressiven Idealisten und Gesellschaftskritikers Max von Schwedenow. Was der Professor nicht wahrhaben will oder wissentlich ausblendet: Tatsächlich war von Schwedenow ein Pseudonym, die Vita zweigeteilt, der Tod auf dem Schlachtfeld der Befreiungskriege von 1812/13 Legende. In Wirklichkeit hieß der Betreffende Friedrich Wilhelm Maximilian von Massow, schwor seinen literarischen Jugendsünden ab und sorgte als Vizepräsident am Oberzensurkollegium dafür, dass in Preußen die Karlsbader Beschlüssen von 1819 galten, mit denen sich das spätfeudale Europa nach den antinapoleonischen Volkskriegen zu erhalten trachtete.

Professor Menzel wird durch den Lehrer, Hobbyhistoriker und Schwedenow-Massow-Intimkenner Ernst Pötsch nachgewiesen, mit einem 600-Seiten-Wälzer über den „Märkischen Jakobiner“ von Schwedenow Geschichte frisieren zu wollen, um der DDR einen progressiven Vorläufer zu schenken, den es so nicht gab. Dem Karrieristen Menzel setzt de Bruyn die naive Aufrichtigkeit des um den Lohn seiner „Märkischen Forschungen“ gebrachten Idealisten Pötsch entgegen. Und das eindrucksvoll.

Die falschen Gläubigen

Als die DEFA 1981 Märkische Forschungen verfilmt, entsteht ein systemkritisches Werk, das von de Bruyns Vorlage nichts zurücknimmt. Regisseur Roland Gräf sprach nach 1990 „vom DDR-kritischsten Film der DEFA“ überhaupt, weil man „von der subjektiven Kritik zu einer strukturellen Kritik“ gekommen sei, „die wirklich in die Tiefe ging“. De Bruyn meinte zu dem von ihm beschriebenen Typus: „Diese falschen Gläubigen waren mir in ihren Beweggründen zwar begreiflicher als die echten, dafür aber um so widerwärtiger, dass ich später als Schriftsteller vor allem sie zum Ziel meiner Kritik machte.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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