Paukenschlag des Überzeugungseuropäers

Kohl-Interview Der Altkanzler als Schirmherr für den Aufstand der Abtrünnigen in der CDU? In der Zeitschrift "Internationale Politik" formuliert er eine Generalkritik an Angela Merkel

Was immer Helmut Kohl in die große Abrechnung treibt – und nichts anderes ist sein Interview, das er gerade der Zeitschrift Internationale Politik (IP) gegeben hat – lässt sich nur mutmaßen. Das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden, gerade jetzt? Der Wille zur Revanche, die Mahnung eines Verbitterten, ein Gefühl für Verantwortung? Alles möglich und ebenso fraglich, sicher auch fragwürdig. Was man ihm auf jeden Fall abnehmen darf, ist die Erschütterung über den fahrlässigen Umgang heutiger deutscher Regierungspolitik mit dem einzigen strategischen Partner, auf den Deutschland im 21. Jahrhundert zählen kann. Dafür kommen kaum mehr die Vereinigten Staaten in Betracht, auch nicht die neuen Weltmächte China, Brasilien und Indien, schon gar nicht Russland – sondern allein Europa.

Wenn es Kohl als Vermächtnis begreift, diese Perspektive überhaupt erst eröffnet zu haben, ist daran nichts ehrenrührig, vieles nachvollziehbar, manches berechtigt. Dies um so mehr, als aus seinen Aussagen die Befürchtung spricht und teilweise nach fataler Gewissheit klingt, die europäische Grundierung der Berliner Republik laufe Gefahr, verspielt zu werden. Und die dafür Zuständigen behelfen sich mit Floskeln, werden sie um Auskunft gebeten: Warum das geschieht.

Es galt als Essential des 3. Oktober 1990, die deutsche Einheit ist nur in einem weiter zusammenwachsenden Europa denkbar und wünschenswert. Aus Achtung vor der Geschichte! Und weil sich die Bundesrepublik Deutschland bis zum 3. Oktober 1990 über ihre Verankerung in Westeuropa definiert hat und identifizieren wollte. Weil es daran (scheinbar) nichts zu rütteln gab, konnte Helmut Kohl die anfangs vom Furor der Wiedervereiniger wenig beglückten François Mitterrand und Margaret Thatcher überzeugen, ihren Bedenken kein Veto folgen zu lassen. Inzwischen jedoch scheint er sich zu fragen, ob der europäische Gründungskonsens der dritten deutschen Republik nach Weimar und den beiden Nachkriegsstaaten leichtfertig zur Disposition gestellt wird. Wenn man „keinen Führungs- und Gestaltungswillen“ habe, sagt er gegenüber IP, „dann hängt man auch nicht an dem, was wir unter Kontinuitäten deutscher Außenpolitik verstehen, ganz einfach, weil man keinen Sinn dafür hat.“ Ein Paukenschlag. Verheerender kann das Urteil über Regierungspolitik und die dafür verantwortliche Regierungschefin kaum ausfallen, selbstgerechter allerdings auch nicht.

Helmut Kohl sehnt sich nach dem Ideal des europäischen „Überzeugungstäters“ und mag selbst einer sein. Doch er läuft dabei Gefahr, einem allzu gnädigen Gedächtnis zu vertrauen. Ob es ihm als Kanzler – hätte er nicht nach der Wahlniederlage 1998 abdanken müssen – tatsächlich gelungen wäre, Griechenland von der Währungsunion fernzuhalten, wie im Interview behauptet wird, ist zu bezweifeln. Hier lagen sich politische und ökonomische Vernunft seit jeher nie in den Armen, gingen die Auffassungen in der EU schon immer auseinander.

Wovon sich der „Überzeugungseuropäer“ Kohl auf keinen Fall freisprechen kann, das ist die unzulängliche Gesamtarchitektur der Währungsunion, die auch seiner Mitwirkung zu verdanken ist: Es gibt eine Europäische Zentralbank (EZB), die auf ihre Funktion als Stabilitätswart reduziert ist, was sie aber angesichts des Wirtschaftsgefälles zwischen den Euroländern nicht wirklich sein kann. Es gibt einen Stabilitätsvertrag, der in Krisenzeiten zur Makulatur verkommt, weil sich die Vertragsstaaten nicht daran halten oder halten können, wollen sie etwas für die Konjunktur tun. Man hat eine Währungsunion, die dem Irrglauben anhängt, sie brauche keine Europäische Sozialunion, eine gemeinsame Währung komme ohne für aller gleichermaßen geltende Sozialstandards aus – dieser Irrtum ist eine der entscheidenden Ursachen des jetzigen Desasters und der drakonischen Verschuldungsraten einzelner Euroländer. Dazu von Kohl kein selbstkritisches Wort.

Natürlich ist das IP-Interview gut getimt und abgestimmt. Kohl zehrt von seinem Einheitsbonus und empfiehlt sich als Schirmherr eines immer vernehmlicher werdenden Unbehagens in der CDU gegen Merkels taktisches Lavieren und ihre offenbar auf wenig europäischen Grundüberzeugungen beruhendes Krisenmanagement in der Eurokrise. Es könnte also sein, dass der Paukenschlag eines Altvorderen etwas länger nachhallt als bei derartigen Interventionen gewöhnlich üblich.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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