Polen ist mehr Täter als Opfer

Flüchtlinge Irakische Kurden und Afghanen fliehen vor Verhältnissen, die westliche Kriege in den vergangenen Jahrzehnten angerichtet haben
NGOs versorgen die Menschen an der Grenze mit dem Nötigsten
NGOs versorgen die Menschen an der Grenze mit dem Nötigsten

Foto: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Sprache kann verräterisch sein, wenn man sie beim Wort nimmt. Polens Premier Morawiecki hat sich zu der Aussage verstiegen, der belorussische Präsident Lukaschenko benutze Flüchtlinge, die in die EU wollten, als „menschliche Schutzschilde“. Wen decken sie, wem geben sie Feuerschutz? Mit wem befindet sich Polen im Krieg, dass sich ein Regierungschef dieser martialischen Rhetorik bedient?

Es ist einige Jahre her – genau sind es 18 –, dass Polen und seine Armee in einer „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA am Einmarsch im Irak beteiligt waren. Polnische Soldaten zählten nach dem Feldzug vom Frühjahr 2003 zur Besatzungsmacht, die ein Land in Schach hielt und auf die Zivilbevölkerung wenig Rücksicht nahm. Wie es heißt, seien derzeit viele irakische Kurden unter den Hilfesuchenden an Polens Ostgrenze. Offenkundig fliehen sie auch vor Verhältnissen, an denen der seinerzeit geführte Krieg und seine Folgen Anteil haben. Vielfach wollen sie zu Verwandten, die zuvor aus dem gleichen Grund in einem EU-Land Zuflucht suchten.

Statt sich als Opfer eines mutmaßlich hybriden Krieges oder „Staatsterrors“ (Morawiecki) hinzustellen, sollte sich die Regierung in Warschau der Täterrolle in einem realen Krieg erinnern und die Frage gefallen lassen: Rächt sich gerade, was man mit zu verantworten hat?

Minimum an Menschlichkeit

Gleiches trifft auf Geflüchtete aus Afghanistan zu. Einerseits werden sie über Luftbrücken Richtung Europa in Sicherheit gebracht, andererseits sollen sie an einer EU-Außengrenze buchstäblich zerschellen. Sollten Migranten aus Kabul, Kandahar oder Mazar-e Sharif nicht durch all jene EU-Staaten aufgenommen werden, die als NATO-Mitglieder 20 Jahre lang in Afghanistan standen? Auch Polen und Deutschland sind da gefragt. Zumindest sollten ihre Regierungen soviel Anstand, Schuld- und Rechtsbewusstsein aufbringen, Menschen nicht im Niemandsland einer Grenzzone leiden zu lassen, sondern human zu behandeln. Dazu gehört neben vorübergehender Aufnahme ein geordnete Asylverfahren. Was ist ein Wertekanon der EU „wert“, der schon versagt, wenn ein Minimum an Menschlichkeit geboten erscheint. Wie das im Übrigen durch die Genfer Flüchtlingskonvention vorgeschrieben ist, die Deutschland ebenso wie Polen anerkannt haben.

Und weshalb kommen die Asylsuchenden über Belarus? Ist es so simpel, dass Alexander Lukaschenko sie „eingeladen“ hat? Kommt nicht ebenso in Betracht, dass anderswo die EU-Außengrenzen komplett dicht oder nur unter tödlichen Gefahren erreichbar sind. Über die Türkei und Griechenland gibt es so gut wie kein Durchkommen mehr, ebenso wenig über die bulgarisch-türkische wie die bulgarisch-griechische Grenze. Gleiches gilt für die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an der Straße von Gibraltar oder die Grenze zwischen dem EU-Staat Kroatien und dem Nicht-EU-Staat Bosnien-Herzegowina.

Und auf der Fluchtroute über das Mittelmeer starben nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) allein in diesem Jahr bis zum 19. Oktober 1.530 Menschen. Viele davon aus Nordafrika, manche aus Libyen und damit einem weiteren Land, in dem westliche Militärverbände vor zehn Jahren einen Krieg forcierten und führten, der Chaos, ökonomischen Niedergang und einen zerfallenen Staat hinterließ.

„Fra Diavolo“ Lukaschenko

Es wirkt nicht sehr intelligent, sondern eher peinlich hilflos, sich an Alexander Lukaschenko als „Fra Diavolo“ abzuarbeiten, der mit seinem Land gerade keinen Schutzwall gegen Flüchtlinge errichtet, sondern ihnen Transit verschafft, den es so nirgendwo an den Außengrenzen der EU mehr gibt, weil das Prinzip Pushback triumphiert. Natürlich steht dahinter die Absicht, der EU zu schaden, aber die lädt durch ihr Verhalten gegenüber Migranten und ihre Zerstrittenheit beim Umgang mit Flüchtlingen dazu ein, dass man ihr schaden kann.

Was sich Kanzlerin Merkel dabei gedacht hat, bei Wladimir Putin zu intervenieren, um den weißrussischen Präsidenten „zur Räson“ zu bringen, bleibt schleierhaft. Warum vor allem hat sie ihr Telefonat öffentlich gemacht? Wird von Moskau allen Ernstes der Nachweis erwartet, Minsk fernsteuern zu können? Zum Kontrollverlust der EU über ihre Flüchtlingspolitik gesellt sich diplomatischer Dilettantismus. Symptomatisch für eine Staatenunion, die mehr sein will, als sie tatsächlich ist, und erkennbar über ihre politischen Verhältnisse lebt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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