Polen, Russland und der Streit über Schuld

Geschichte Am 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung zeigt sich einmal mehr, wie Gedenken zur eigenen Legitimation herangezogen wird
Ausgabe 04/2020
Eine Baracke aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Sie wird bis heute gepflegt, um die Erinnerung zu erhalten
Eine Baracke aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Sie wird bis heute gepflegt, um die Erinnerung zu erhalten

Foto: Bartosz Siedlik/AFP/Getty Images

Die Regierungen in Warschau und Moskau gehen sich entschlossen aus dem Weg, wird die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren erinnert. Präsident Putin reist nicht zur Gedenkfeier in Polen, weil die dortige Führung der Sowjetunion vorwirft, durch den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 den Zweiten Weltkrieg (und so den Massenmord an den Juden?) mit verschuldet zu haben. Präsident Duda verweigert den gemeinsamen Auftritt im israelischen Yad Vashem, weil ihm keine Redezeit zugestanden ist – Wladimir Putin dagegen schon.

Was Warschau besonders erzürnt, ist eine Äußerung des russischen Präsidenten, wonach die polnischen Autoritäten 1939 für ihren Untergang mitverantwortlich und zudem antisemitisch gewesen seien. Dass die Rote Armee nach dem deutschen Überfall in Ostpolen einrückte, habe Juden das Leben gerettet. Für das nationalhistorische Narrativ der regierenden PiS ein Sakrileg sondergleichen. Bekanntlich bestreitet sie jede polnische Mitschuld am Holocaust – als hätte es das Massaker von Jedwabne am 10. Juli 1941 nicht gegeben, bei dem 340 jüdische Einwohner durch polnische Bürger unter Aufsicht deutscher Besatzer gelyncht wurden. Ja, Polen haben Juden versteckt und dafür mit dem Leben bezahlt, und Polen haben Juden nicht geschützt, nicht schützen können, manchmal verraten. Diese Wahrheit nicht anzunehmen, ist so absurd wie die jahrelange Behauptung sowjetischer Führer, es habe zum Hitler-Stalin-Pakt kein geheimes Zusatzprotokoll gegeben.

Jahrestage wie der gerade begangene sind leider keine Gewähr dafür, sich eines historischen Geschehens vorbehaltlos anzunehmen. Sie scheinen stattdessen als Anlass willkommen, sich des Gedenkens zu bedienen, um eigener Legitimation zu dienen. Dazu wird Deutung von Geschichte der Deutung von Ereignissen ausgeliefert, deren Kontext kaum mehr verbindlich zu klären ist. Man denke an die im Sommer 1939 praktizierte Geheimdiplomatie, das verwirrende Wechselspiel der Allianzen, die Kluft zwischen bekundeten und tatsächlichen Absichten damaliger Akteure. Das begünstigt den fatalen Hang, historische Vorgänge vom Ende her zu erzählen. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt lässt sich nun einmal überzeugender verurteilen, wird seine Vorgeschichte ausgeblendet und mit ihr die Angst Stalins, isoliert und schlecht vorbereitet in einen Krieg mit Deutschland zu geraten.

Anstatt die Sowjetunion zu schmähen, könnten polnische Politiker ausnahmsweise Frankreich und Großbritannien vorwerfen, 1939 trotz Beistandspflicht militärisch nicht wirksam eingegriffen zu haben. Die polnische Armee wäre erheblich entlastet worden, hätten die Westmächte eine zweite Front riskiert, statt zu hoffen, dass Hitler nach der Eroberung Polens zunächst einmal satt ist.

Wie sie im September 1938 glaubten, man könne mit dem Münchner Abkommen die Tschechoslowakei opfern, um selbst verschont zu bleiben. Das war kein pragmatisches Kalkül, sondern Verrat. Auch haben Frankreich und Großbritannien danach mit Moskau weniger über kollektiven Beistand verhandelt als gepokert, um ein Agreement mit Hitler im Spiel zu halten, das eine Art „zweites München“ sein konnte. Lässt sich bestreiten, wie sehr Polen damit tödlicher Gefahr ausgesetzt war – und ebenfalls geopfert wurde? Und dass im Grunde genommen Gleiches für die europäischen Juden galt, hält man sich vor Augen, was daraus folgte? Polen, das Land mit der größten Zahl an Shoah-Opfern – 3,4 Millionen ermordeten Juden –, sollte sich darüber im Klaren sein.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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