Populismus, lehrbuchreif

Kommentar Merkel mag die Türkei lieber draußen

Kurz vor dem Irak-Krieg, im Februar 2003, hatte Angela Merkel in Washington einen Auftritt als treue Verbündete. So sehr sie damals der Planung einer Aggression Verständnis entgegenbrachte, so wenig verstand sie offenbar das geostrategische Kalkül ihrer Gesprächspartner aus der Bush-Administration. Ansonsten müsste sie heute die EU-Kommission regelrecht beschwören, die Türkei für den europäischen Ritterschlag zu nominieren. Die US-Regierung ließ nie einen Zweifel, wie sehr sie Europa in der Verantwortung sieht, um die eurasische Republik vor islamistischer Anfechtung zu retten.

In Ankara lässt sich dafür im Augenblick kein besserer Partner finden als Premier Erdogan von der moderat islamischen Gerechtigkeits-Partei (AKP) - der Garant gegen einen sich politisch radikalisierenden Islam, dessen Vorboten mit der 1996/97 kurzzeitig regierenden Wohlfahrtspartei (Refah) des Necmettin Erbakan den laizistischen Staat zu unterlaufen begannen. Tayyip Erdogan steht deshalb unter Erfolgszwang. Bleibt er seinen Landsleuten die europäische Perspektive schuldig, werden sich viele der orientalischen erinnern. Auch dürften die um den autoritären Obrigkeitsstaat besorgten Eliten in Armee und Bürokratie die angelaufenen Staatsreformen nicht mehr tolerieren, sollte die Türkei zu lange vor der europäischen Pforte betteln müssen.

Also hat die EU einen Stabilitätsanker zu werfen - das erwarten die Amerikaner nicht nur, das betrachten sie als angemessene Kompensation für die militärische Teilabstinenz Europas im Irak. Dass sie dabei auch ökonomisch entlastet sein möchten, versteht sich. Die EU, heißt es in Washington, dürfe sich über 70 Millionen Konsumenten auf einem dynamischen mittelöstlichen Markt freuen. Rhetorisches Blendwerk, das Brüssel nur deshalb willig erträgt, weil eine offene Debatte neben dem wirtschaftlichen das enorme politische Risiko einer türkischen EU-Mitgliedschaft offenbaren würde. Die Union geriete unweigerlich in den Sog sämtlicher Konflikte des Nahen und Mittleren Ostens. Über das fragile Syrien würde sie direkter Anrainer eines Feindstaates der Israelis, mit der türkischen Südgrenze wäre der Kriegsschauplatz Irak berührt, mit der im Osten für Tuchfühlung mit der Islamischen Republik Iran gesorgt. Der Türkei-Nachbar Georgien könnte sich angesichts der neuen Nähe zur EU ermuntert fühlen, im Hader mit Russland die rauere Gangart zu suchen. Schließlich enthielte die türkische Mitgift noch Armenien, das den Streit mit Aserbeidschan um Nagorny Karabach auf der nach oben offenen Eskalationsskala hält. Kurz: Die EU wird sich einen Frontstaat einhandeln, dessen Eigengewicht größer sein kann als das aller acht Neumitglieder aus Osteuropa zusammen. Warum redet Merkel nicht darüber, anstatt auf die innenpolitische Ausbeute eines dumpfen Unbehagens über eine vollends überladene EU zu spekulieren? Hat sie ihre Freunde in Übersee eventuell doch begriffen?


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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