Da gibt es inzwischen zwei hoch gehandelte, finanziell schwer abgesicherte Rettungsschirme, die es zusammen auf 1.000 Milliarden Euro bringen können. Sie sollen die Währungsunion und damit die EU vor drohender Selbstaufgabe retten. Doch erst in Jahrzehnten – wenn überhaupt – wird das vollbracht sein. Und siehe da, wo die Not am größten, ist Gott am nächsten. Diesmal in Gestalt des Osloer Nobelpreiskomitees, das der EU bedeutet, es ausnahmsweise mit einem ideologischen Rettungsschirm zu versuchen. Die Verleihung des Friedensnobelpreises bietet genau das und lässt fragen: Hat die EU außer Billionen von Schulden nicht auch Tugenden angehäuft, die es verdienen, derart prämiert zu werden? Dieser Rettungsschirm ist zwar nur mit einer
er Million Euro dotiert. Aber vielleicht lassen die sich besser „hebeln“ als die Milliarden aus den bisherigen Opferstöcken. Eines nur dürfte sicher sein: Die seelsorgerische Investition aus Oslo wird die EU kaum aus der Sinnkrise lotsen.Hegemonie der UmständeSo makellos – wie das die Erklärung des Preiskomitees suggeriert – fällt die Bilanz von sechs Jahrzehnten europäischer Friedensunion ohnehin nicht aus. Das in Maßen friedfertige Europa war von Anfang an weder das Werk selbstloser Idealisten noch die Schöpfung sich verzückt in den Armen liegender Völker. Erinnern wir uns, es gab in den frühen fünfziger Jahren bei allem guten Willen zur Versöhnung das dringende Gebot, sich die bösartigsten Affekte gegenüber einstigen Erzfeinden abzugewöhnen. Westeuropäische Politiker wie Konrad Adenauer, der italienische Premier Alcide De Gasperi, besonders aber Robert Schuman, damals französischer Außenminister, handelten nicht zuletzt aus dem elementaren Bedürfnis des Selbsterhalts. Deutschland und Frankreich musste klar sein, keinen vierten Krieg mehr gegeneinander führen zu können. Was man sich fast ein Jahrhundert lang an Barbarei und Zerstörungswahn zugemutet hatte, wäre noch übertroffen worden – das stand außer Frage. Und es würde dort enden, wo nichts mehr anfängt – in der Apokalypse.Nicht zufällig war es deshalb die Industrie, die sich zur Garantiemacht einer deutsch-französischen Détente berufen fand. Die im April 1951 begründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) sollte einen militärischen Konflikt zwischen beiden Staaten materiell unmöglich machen – die genannten Branchen waren einer gemeinsamen Hohen Behörde unterstellt. Es entstand eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der sich ein Partner nur selbst schaden konnte, wenn er dem anderen schaden wollte. Das Prinzip, Konfrontation durch Kooperation auszuschließen, bestand den Praxistest und führte 1957 zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Formiert wurde sie von den Ländern, die sich bereits in der Montanunion gefunden hatten: Neben der Bundesrepublik und Frankreich waren dies Italien, Luxemburg, Belgien und die Niederlande.Eine solche Staaten-Assoziation hatte neben ökonomischen Vorzügen sehr viel damit zu tun, dass die europäische Nachkriegsordnung weder dem Ost-West-Konflikt noch der Systemkonkurrenz entkommen konnte. Besonders für den westdeutschen Staat an der Nahtlinie der Antipoden sollte ein Platz gefunden werden. Er schien im Geleit der Westeuropäer am besten aufgehoben und gegen Alleingänge gefeit.Will heißen, beim Übergang von nationalstaatlicher Macht- zu verhandelter Regionalpolitik, wie sie die EWG ermöglicht hat, verdient die Hegemonie der Umstände, gewürdigt zu werden. Die Ökonomie war ein Friedensbringer, sofern sie Grenzen überschreiten konnte, ohne dabei Kommissstiefel zu tragen. Ein Staatenverbund wie die EWG, später die Europäische Gemeinschaft (EG), war ein institutionalisiertes Machtwort – und Teil der Konfrontation der Systeme auf dem Kontinent. Wer also die EU zum epochalen Friedensprojekt erklärt, sollte nicht ausblenden: Dieses Kompliment riecht nach einer Epoche, in der Europa zum Frieden gezwungen war, wollte es nicht zum Untergang verdammt sein. Da waren in Brüssel keine altruistischen Schöngeister am Werke, bestenfalls pragmatische Visionäre wie der langjährige EG-Kommissionspräsident Jacques Delors, die wussten, was sie ihren Staaten und Gesellschaftssystemen schuldig waren. Für die unbefleckte Geschichte bürgen sie nicht.Wenn das postpolare Europa nach 1990 ein weitgehend friedliches blieb, war das einem Prinzip zu verdanken, das schon vor dem Kollaps des Sozialismus in Osteuropa galt: Die Grenzen aller Staaten sind unverletzlich. 1975, mit der KSZE-Schlussakte von Helsinki, bekannte man sich dazu diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Und hielt sich daran. Alle wussten, sobald dieses Axiom entfällt, kann es Krieg geben. Und alle wissen heute, ein solcher brach nicht vor, sondern nach dem Epochenbruch aus. Zwischen 1991 und 1999 verwüstete die Kriegsfurie acht Jahre lang das föderative Jugoslawien.Der Vollständigkeit halberEin gnädiges Gedächtnis wird der nunmehr nobilitierten EU keine direkte Verantwortung an diesem Zivilisationsbruch anlasten – Mitverantwortung aber kaum bestreiten. Damit sind nicht fruchtlose diplomatische Versuche reflektiert, Gefechte, Massaker und Vertreibungen einzudämmen. Gemeint ist vielmehr die vorzeitige diplomatische Anerkennung der sich aus Gesamtjugoslawien herauslösenden Teilstaaten Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina durch Deutschland und andere EU-Staaten. Da waren statt europäischer Friedensstifter plötzlich kantige Ordnungspolitiker am Werk, ließ sich doch mit dem Systemwandel gleich noch territorialer Umbau erledigen, wie bei der Unabhängigkeit des Kosovo 2008. Dass die zustande kam, hatte einiges mit dem letzten Sezessionskrieg in der Chronik des jugoslawischen Dramas zu tun. Geführt wurde der als völkerrechtswidrige Luftintervention der NATO gegen Serbien und Montenegro. Alle EU-Staaten, soweit sie zum Nordatlantikpakt zählten, nahmen daran teil oder gerieten in den Sog dieses Sündenfalls. Der Vollständigkeit halber und für die Laudatio bei der Preisverleihung sei zudem erwähnt: Der Friedensbund ertrug auch Eroberer in seinen Reihen. Es hat sechs der acht osteuropäischen Beitrittsstaaten, die 2004 in die EU kamen, nicht geschadet, zuvor mit eigenem Militär einer Koalition der Willigen einzusteuern. Der damalige US-Präsident Bush hatte sie 2003 um sich geschart, bevor er in den Irak einfiel.Wenn also die Osloer Preisverteiler das Europa des Friedens so überschwänglich loben, wüsste man gern, welches gemeint ist? Das mit den Feldzügen der amerikanischen Supermacht verbündete? Das der Menschenrechtsaktivisten, die kaum mehr zucken, wenn in Pakistan oder Afghanistan US-Drohnen unbeteiligte Zivilisten auslöschen? Das Europa der Märkte, auf deren Freiheitsdurst, vor allem Expansionsdrang Verlass ist, wovon sich wiederum das mit den USA verbündete Europa bestätigt fühlen darf? Oder das Europa der Bürger, das vom Europa der Staaten übergangen wird, geht es etwa um die fortwährende Militarisierung der EU? Was – nebenbei gesagt – das Osloer Lob für die demokratischen Standards des Preisträgers als blanken Zynismus erscheinen lässt. Von allem Euro-Jammer abgesehen, findet sich die EU ja gerade deshalb in einer prekären Glaubwürdigkeitskrise, weil sie ihren Bürgern Recht und Reife bestreitet, wenigstens hin und wieder darüber abzustimmen, ob es eine Zukunft in diesem Europa geben soll. Und wenn ja, welche. In Deutschland brachte das Verfassungsgericht bei seinem Votum zu Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM) und Fiskalpakt noch nicht einmal den Mut auf, klar zu sagen, dass es eine neue, EU-Realitäten angemessene Verfassung geben muss. Der Friedensnobelpreis wird an dieser Entfremdung nicht das Geringste ändern und die Euro-Rettung weiter finten- wie erfindungsreich die Demokratie parodieren.Wenn das Nobelpreiskomitee die EU trotz allem mit dem Gütesiegel globaler Unentbehrlichkeit versieht, kommt das einem Offenbarungseid gleich: Die Vereinten Staaten von Europa werden für systemrelevant erklärt. Was noch keine Qualitätsmarke sein muss, denn welche marode Bank ist das nicht? Doch darf das Prinzip too big to fail in diesem Fall getrost als Mahnung oder eben Drohung verstanden werden. Geht die EU unter, wäre es um das Europa der erzwungenen und erprobten Friedfertigkeit wohl bald geschehen. Wer will das schon riskieren? Die Frage zeigt: Der ideologische Rettungsschirm aus Oslo beginnt zu wirken.
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