Privatisierung in Russland: Geburtsstunde der Oligarchen
Zeitgeschichte Präsident Boris Jelzin will 1992 die Privatisierung um jeden Preis. Seine westlichen Mentoren applaudieren, obwohl die russische Ökonomie damit einem Schockzustand ausgesetzt ist
Das Weiße Haus brennt – das in Russland: Moskau am 2. Oktober 1993
Foto: Alexander Nemenov/AFP/Getty Images
Am Morgen des 4. Oktober 1993 erhalten im Zentrum Moskaus aufgefahrene Panzer den Feuerbefehl – im Visier das Weiße Haus, den Sitz des Obersten Sowjets, damals Russlands Legislative. Der im Westen als Abräumer der Sowjetunion geschätzte Präsident Boris Jelzin zieht blank. Seit Wochen rumort eine Pattsituation, Jelzin erlässt Dekrete, das Parlament hebt sie wieder auf. Auslöser der ersten schweren Staatskrise nach dem Zerfall der Sowjetunion ist der chaotische Zustand der Ökonomie. Seit Anfang 1992 ist sie radikalen Reformen ausgesetzt, um marktkonform formatiert zu sein.
Als der Kreml am 21. September den Obersten Sowjet mit dem „Dekret 1400“ für aufgelöst erklärt, greift das Oberste Gericht ein und erklärt Jelzins Ent
elzins Entscheidung für verfassungswidrig. Zugleich wird das Weiße Haus von einer Mehrheit der Deputierten besetzt und Vizepräsident Alexander Ruzkoi zum neuen Staatschef ausgerufen. US-Präsident Bill Clinton greift ein, um Jelzin seines Rückhalts zu versichern und mit einer Soforthilfe von 2,5 Milliarden Dollar auszustatten. Als in Moskau Zehntausende marschieren und im Begriff sind, das Weiße Haus durch einen menschlichen Schild des Widerstandes zu schützen, entschließt sich Jelzin zur militärischen Lösung und lässt stürmen. Die postsowjetische Oktoberrevolution fordert – so offizielle Angaben – 187 Tote. In Wirklichkeit sind es fast 400, wie Verteidigungsminister Pawel Gratschow bald darauf zugibt, darunter Abgeordnete – Offiziere, Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten. Im Westen wird das Massaker als „Sieg für die Demokratie“ gefeiert und ignoriert, woran sich der Zorn gegen Jelzin entzündet hat: extrem verschlechterte Lebensbedingungen und Wirtschaftsreformen, bei denen eine „Privatisierung um jeden Preis“ als vulgäre Zumutung besonders herausragt.Seit dem 1. Oktober 1992 hat jeder Russe – ob erwachsen oder im Kindesalter – Anspruch auf einen „Voucher“ (Gutschein) im Wert von 10.000 Rubel, damals umgerechnet 17 Dollar. Mehr als das Durchschnittseinkommen eines Drehers, der im Herbst 1992 auf einen Lohn von 7.500 bis 8.000 Rubel rechnen kann. Da die Einwohnerzahl der Russischen Föderation zu diesem Zeitpunkt bei etwa 148 Millionen Menschen liegt, werden Voucher in dieser Zahl ausgegeben, ohne dass sich dies später rekonstruieren ließe. Eine zentrale Registratur unterbleibt. Dabei können Voucher nicht einfach in Geld – sprich: 10.000 Rubel – umgetauscht werden. Wer einen solchen Coupon besitzt, hat lediglich das Recht, Aktien im Wert von 10.000 Rubel von Firmen zu erwerben, die der Staat aus seinem Besitz zu entfernen wünscht. Das bedeutet, mit Vouchern lässt sich nur dann etwas anfangen, wenn es gelingt, sie in relevanter Größenordnung aufzukaufen, um einen florierenden Handel zu betreiben oder selbst Eigentümer lukrativer, weil gewinnträchtiger Unternehmen zu werden. Dafür in Betracht kommen Betriebe im Bergbau, des Erdöl- und Gassektors, der Metallurgie, der Lebensmittelindustrie, teilweise des Automobilbaus. Allein im Militärisch-Industriellen Komplex (MIK) und der Weltraumfahrt will der Staat nicht weichen, um keinerlei Selbstentleibung zu betreiben, die ihn als ökonomischen Akteur ins Abseits stellt.So sind während der frühen 1990er Jahre in Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg und anderswo Auktionen üblich, bei denen Voucher-Pakete versteigert werden, um Aktienmehrheiten bei Unternehmen zu sichern, deren Fortbestand über jeden Zweifel erhaben ist. Als Zwischenhändler treten aufstrebende Geldhäuser wie Rosbank (gegründet 1990), Sberbank (1991) und VTB-Bank (1992) oder als Investmentgesellschaften getarnte Syndikate von Strohmännern in Erscheinung, die durch Voucher erworbene Wertpapiere zum symbolischen Preis von einem Rubel an Einzelpersonen oder Personengruppen verkaufen – in der Regel die künftigen Eigentümer aus staatlicher Obhut entlassener Firmen. Sind das anfangs noch die „roten Direktoren“ aus Sowjetzeiten, schlägt bald die Geburtsstunde der Oligarchen, die dank eines solchen Systemtransfers Wirtschaftsmacht sondergleichen absorbieren.Bei einer Inflationsrate jenseits der 2.500 Prozent Mitte 1992 zählen allein Sachwerte: Grund und Boden, die reichlich vorhandenen natürlichen Ressourcen, von der Wasserkraft über Eisenerz, Zinn, Nickel, Kupfer und Gold bis zu Erdöl, Erdgas und Steinkohle, dazu Maschinen und Anlagen.Worauf es Präsident Jelzin, seinem Premier Jegor Gaidar und Privatisierungsminister Anatoli Tschubais – offiziell „Vorsitzender des Staatlichen Komitees für die Verwaltung des Staatsvermögens“ – ankommt, ist unschwer auszumachen. Ihnen liegt das Irreversible solcherart Privatisierung am Herzen, der Bruch mit einer Planwirtschaft sowjetischer Provenienz und einem Sozialismus, dem als Verteilungs- und Sozialsystem die sozioökonomische Basis gekappt wird. Grigorij Jawlinksi, damals Vorsitzender der liberalen Jabloko-Partei, redet Klartext. Russland brauche keine Reformen, „sondern ein neues Wirtschaftssystem“. Und das soll es geben. Der Preis dafür besteht in einem Absturz des Normalbürgers, der durch die Inflation sämtliche Ersparnisse einbüßt, dazu nicht selten Betrieb und Arbeitsplatz. Ende 1992 bereits ist der 10.000-Rubel-Voucher nicht einmal mehr das Papier wert, auf das man ihn druckt. Was mindestens drei Generationen in sieben Jahrzehnten Sowjetstaat (er entstand 1922) an Werten geschaffen haben – durch die Industrialisierung in den 1930er Jahren oder den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg –, wird dem Zugriff der unmittelbaren Produzenten entzogen, nicht selten Verfall und Zerstörung ausgeliefert. Russlands archaischer Kapitalismus des ersten Jahrzehnts nach Michail Gorbatschow bewirkt eine Zäsur, die in Osteuropa – bis auf die Deindustrialisierung Ostdeutschlands – nirgendwo drastischer ausfällt. Der soziale Statusverlust wird zum maßgebenden Kriterium des Rückschritts. In der osterweiterten Bundesrepublik erweisen sich die vom Staat garantierten Sozialsysteme als robust genug, Kollaps und Aufruhr zu verhindern – in Russland existiert dergleichen nicht (bzw. nicht mehr).Ende 1994, nach drei Jahren beschleunigter Transformation, liegt der Anteil der Privatwirtschaft an Russlands Bruttoinlandsprodukt bei 49 Prozent. In jener Zeit trifft das von der Dimension her ebenso für die baltischen Staaten, Ungarn, Polen und die Slowakei zu. Nur haben die sich für andere Privatisierungsmodelle entschieden, was politischen Weichenstellungen bereits 1989/90 vor dem Ende der Sowjetunion geschuldet ist. Litauen sagt sich am 11. März 1990 von Moskau los, Estland und Lettland folgen nach dem gescheiterten „Augustputsch“ einer prosowjetischen Nomenklatura im Spätsommer 1991. Polen hat nach der am „Runden Tisch“ beschlossenen Parlamentswahl ab August 1989 die erste nichtkommunistische Regierung des Ostblocks unter Tadeusz Mazowiecki, einem Oppositionspolitiker mit Solidarność-Nähe. In Ungarn nutzen die bis dahin regierenden Sozialisten im Oktober 1989 den XIV. Parteitag zur Abkehr von ihrer Ostblock-Vergangenheit.Ende 1994 bemerkt Jewgenij Jasin, der für Boris Jelzin ein „Analytisches Zentrum beim Präsidenten“ führt, im Blick auf die Voucher-Privatisierung, dass sich die 148 Millionen Coupons für die Bevölkerung wohl „nie mehr vergolden“ würden. Zwei Jahre zuvor hatte Privatisierungskommisar Tschubais noch versprochen, eines nicht fernen Tages, würden Voucher so viel wert sein, dass man sich dafür einen Wagen der Marke Wolga leisten könne.Das klang nach Beschwichtigung, die auf Täuschung hinauslief. Die allgemeine Kaufkraft in Russland war bereits am 2. Januar 1992 durch die per Präsidentendekret erfolgte Freigabe der Preise derart geschröpft, dass Voucher kein Wechsel auf die Zukunft sein konnten. Sie beurkundeten vielmehr Betrug und Ausverkauf. Die in Deutschland inzwischen grassierende Geschichtsamnesie ist dagegen gefeit, die Enteignung eines Volkes als bis heute nachwirkend gelten zu lassen.