Das Vaterland ist in Gefahr, hatte Wladimir Putin mit Blick auf das Jahr 1941 gewarnt und den Brandherd im Kaukasus gemeint, der Russland zu zerstören drohe. Nur ein Politiker in Moskau - der Jabloko-Sprecher Grigori Jawlinski - hat es riskiert, diesem Urteil öffentlich zu widersprechen. Schließlich war das Land während der vergangenen Monaten vom Fieber eines Großen Vaterländischen Wahlkampfes geschüttelt. Einer Schlacht um Seelen. Einer Schlammschlacht um Stimmen. Einem furiosen Spektakel, das es in dieser Färbung - sofern der Tschetschenien-Krieg gewonnen bleibt - vermutlich so bald nicht wieder geben wird. Was indes Schmutz und Schärfe der Auseinandersetzung angeht, möge dafür niemand bürgen. Wer wollte beschwören, dass am 9. Juli 2000, wenn über Jelzins Nachfolge entschieden wird, nicht erneut das Vaterland gerettet werden muss. Diesmal vor den Kommunisten. Wie schon einmal 1996. Das "Jahr 41" allerdings brauchte dann nicht bemüht zu werden, eher empfiehlt sich das "Jahr 91", als eine Schar von KPdSU-Politbüro-Mitgliedern um den damaligen Vizepräsidenten Janajew durch einen Putsch die Sowjetunion zu retten suchte.
Wenn im Kaukasus das Vaterland in Gefahr ist, dann kann es kaum überraschen, dass seine effizienten und kaltblütigen Verteidiger mit der Duma-Wahl eine gewisse Absolution erfahren haben. Das gilt für den Premier, aber nicht minder für seine Hausmacht: die Generalität, den Geheimdienst, die Armee überhaupt. In den Augen vieler wäre es wohl einem Dolchstoß gleichgekommen, in der Stunde der Entscheidung von Grosny gegen die Kreml-Partei Einheit zu entscheiden. Schließlich hat sich Wladimir Putin um das Vaterland verdient gemacht und im Sinne der nationalen Mentalität als ausgeprochen satifaktionsfähiger Politiker erwiesen. Der Krieg im Kaukasus wirkt wie eine erlösende Kar thasis, um der Autorität von Macht wieder Glaubwürdigkeit zu verleihen - einer Autorität, die in Russland von höherem Wert sein kann als das Gesetz.
Wladimir Putin und Sergej Schoigu haben die Sehnsucht danach mit ihrem rigiden Patriotismus vorzüglich bedient. Mehr aber auch nicht. Sie haben dem System Jelzin einen kräftigen Überlebensschub verpasst, ohne selbst mit diesem System in allzu symbiotischer Enge verwachsen zu sein. Beide umgibt weder die morbide Aura der Kreml-Mandarine und ihres siechen Patriarchen noch der kantige Pragmatismus der neuen Oligarchen à la Boris Beresowski. Unübersehbar rüstet die zweite Generation der politischen Transformationsgewinnler zur Wachablösung. Ihr Charisma verdankt sie nicht unmaßgeblich der Tatsache, dass durch Sergej Kirijenko (Union Rechter Kräfte/URK) und Sergej Stepaschin zwei abgelegte Premierminister der Ära Jelzin als Joker im Spiel sind, die sich besonders dem aufstrebenden Mittelstand verbunden fühlen.
Auch im Westen hat Putin nach diesem 19. Dezember an Kontur zulegen dürfen. Gestern noch als mutmaßlicher Kriegsverbrecher in die Nähe MilosÂevic´s gerückt, firmiert er plötzlich als erfolgreicher Gralshüter einer "bürgerlichen Mitte", die den siegreichen Kommunisten das Siegen verleidet. Die Ideologen im Kreis der Russland-Kolporteure haben den Hauptfeind nicht vergessen. Was wird erst mit den Menschenrechten sein, wenn Gennadi Sjuganow im Katharinen-Saal empfängt? Da ist Putin natürlich das kleinere Übel, kleiner noch als Jelzin eines war. Und einen Sieg für die Demokratie hat er auch noch eingefahren, da wird der Sieg in Tschetschenien hoffentlich nicht auf sich warten lassen. Das kleine Einmaleins mancher deutscher Russland-Kommentatoren verzichtet zu Recht auf höhere Mathematik.
Ob das bürgerliche und das linke Lager in der Duma nun vorzugsweise die Konfrontation pflegen werden und wie sich dabei Lush kows und Primakows Vaterland - Ganz Russland einsortieren, die nicht so weit abgeschlagen sind, wie das erste Hochrechnungen suggerierten, bleibt abzuwarten. Die Kommunistische Partei (KPRF) hat in der verstrichenen Legislaturperiode den Anspruch einer staatstragenden Opposition wie eine Monstranz vor sich her getragen. Immerhin konnte sie unter dem Premier Primakow (September 1998 - Mai 1999) mit Juri Masljukow kurzzeitig einen stellvertretenden Ministerpräsidenten stellen. Die Partei dürfte auch künftig nicht in den Geruch geraten wollen, ohne die gebotene nationale Verantwortung zu handeln. Insofern wird sie bis zu den Präsidentschaftswahlen einen von Verfassungstreue gesalben Machtkampf suchen, aber keinen Machtpoker betreiben, der in anarchische Zustände münden kann. In dieser Selbstzügelung offenbart sich im übrigen der entscheidende strategische Nachteil für die potenzielle Regierungspartei KPRF - sie agiert weitgehend außerhalb des korporativen Gefüges der postsowjetischen Gesellschaft, das von den großen Industriekomplexen mit ihren außenwirtschaftlichen Netzwerken (Erdöl-Erdgas-Komplex), über das System der Privatbanken, die Medien bis zu den militärischen Formationen und Diensten wichtiger Ministerien (Innen-, Verteidigungs- und Nationalitätenressort) reicht. Die KP ist zwar Teil der postsowjetischen Gesellschaft, nicht jedoch der sie steuernden Machtkartelle und des Überbaus. Die Paradoxie besteht darin, dass sie diesen Überbau stabilisiert, solange sie ihm nicht angehört. Sie kann ihn - im Interesse ihrer Integrität - eigentlich nur aufbrechen oder sich integrieren lassen. Das setzt Grenzen für denkbare Arrangements mit Putin und Schoigu oder Lushkow und Primakow.
Allerdings ignoriert die vorherrschende Wahrnehmung Russlands, die im Westen mit dem Raster Kaukasus-Krieg auskommt, dass einer Mehrheit der Wähler - besonders der Wahlverweigerer - nicht zuerst der militärische Parforce-Ritt in Tschetschenien im Nacken saß, sondern das eigene soziale Dasein. Für 40 Prozent der Bevölkerung heißt das Leben unterhalb des Existenzminimums - Leben als Überleben. Trotz einer Belebung des Außenhandels durch die Rubelabwertung und den gestiegenen Ölpreis auf dem Weltmarkt hat sich auch 1999 die Lage der privaten Haushalte drastisch verschlechtert. Bis zum III. Quartal sind zwar die Löhne nominal um 39 Prozent gestiegen, real jedoch haben sie 32,4 Prozent an Kaufkraft verloren, während zugleich die Verbraucherpreise von Januar bis Oktober um 31,4 Prozent gestiegen sind. Vor der Präsidentschaftswahl werden die Zahlung ausstehender Löhne und Renten, aber auch die dringend gebotene Sanierung des Bildungs- und Gesundheitswesen wieder mehr im Vordergrund stehen als das jetzt der Fall war. Jedem Kriegspremier drohen irgendwann auch Friedenszeiten.
Wahlen zur Duma 1999 und 1995
(in Prozent / in Klammern Anzahl der Mandate)
Partei | 1999 | 1995 (*) | |
Kommunistische Partei (KPRF) | 24,4 (111) | 22,3 (157) | |
Einheit | 23,7 ( 76) | nicht existent | |
Vaterland - Ganz Russland (VGR) | 12,1 ( 62) | nicht existent | |
Union der Rechten Kräfte (URK) | 8,7 ( 29) | nicht existent | |
Liberal-Demokratische Partei (LDRP) | 6,2 ( 17) | 11,2 (51) | |
Jabloko (G. Jawlinski) | 6,1 ( 22) | 6,9 (45) | |
Unser Haus Russland (Tschernomyrdin) | 1,1 (-) | 10,1 (55) | |
Agrarpartei | 1,3 (-) | 3,8 (20) |
(*) 1995 galt noch die Vier-Prozent-Hürde - Parteien, die darunter blieben, konnten auch über Direktmandate in die Duma einziehen
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.