Realpolitische Magersucht

EU Ursula von der Leyens europäisches Wertekollektiv war und ist ein Mythos, allein geeignet, falsche Erwartungen zu wecken
Ausgabe 39/2020
Hatte von der Leyen im Parlamentsplenum nicht nur am Pult, sondern auch auf dem Boden der Tatsachen gestanden?
Hatte von der Leyen im Parlamentsplenum nicht nur am Pult, sondern auch auf dem Boden der Tatsachen gestanden?

Foto: Olivier Hoslet/Pool/AFP/Getty Images

Eines blieb offen. Wollte Ursula von der Leyen mit ihrer ersten State-of-the-Union-Rede vor dem Europaparlament die Hoheit über die Köpfe oder die Gemüter gewinnen? Wer ihr zuhörte, glaubte Letzteres bei all den mit emphatischer Inbrunst und Pathos vorgetragenen Ansagen. Auf die Dauer wirkte das nicht nur ermüdend, es erstaunte zugleich. Immerhin ging die Kommissionspräsidentin ein Risiko ein. Es bestand darin, das Deklamierte einem Tauglichkeitstest auszusetzen, wollte man es abgleichen mit EU-Realpolitik.

Hatte von der Leyen im Parlamentsplenum nicht nur am Pult, sondern auch auf dem Boden der Tatsachen gestanden? Wenn ja, dann müsste auf dem nächsten EU-Gipfel Folgendes passieren: Die 27 Regierungschefs einigen sich, das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) spätestens bis Ende 2020 zu reformieren. Weiter wird entschieden, und zwar unwiderruflich, dass bis 2030 EU-weit 55 Prozent der CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 entfallen. Es gibt den Konsens, auf weitere Brexit-Verhandlungen zu verzichten, da eine Mehrheit im britischen Unterhaus vom Binnenmarktgesetz nicht lassen will. Beschlusslage ist, die Regierung Erdoğan wird wegen ihres aggressiven Verhaltens im Mittelmeer mit Sanktionen belegt, nicht nur die Führung von Belarus damit bedroht. Schließlich erhält die Debatte über den Haushalt von 2021 bis 2027 einen ultimativen Schub, um der EU-Legislative zu bedeuten, dass sie möglichst bald ihr Votum zum Etat und dem beim Vier-Tage-Gipfel im Juli mühsam vereinbarten Corona-Hilfsfonds abgeben muss. Nur dann – die Zustimmung der nationalen Parlamente vorausgesetzt – kann ab Januar Geld fließen.

So etwa sähe die Agenda des Unausweichlichen aus. Sie würde der Aussage von der Leyens gerecht, „dass wir in den vergangenen Monaten den Wert unserer Gemeinsamkeiten wiederentdeckt haben“. Ist diese Wiederentdeckung keine Halluzination, sollte sich das dort auswirken, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Passiert aber nicht.

Natürlich lässt sich nachvollziehen, dass die Kommissionschefin bei der Flüchtlings- und Klimapolitik, der Digitalisierung wie den Corona-Hilfen jetzt vorlegen will, um nicht erneut hinterherzulaufen. Bekanntlich gab es den ersten Aufschlag zur EU-Krisenabwehr am 18. Mai in Berlin und Paris, nicht in Brüssel. Kanzlerin Merkel und Präsident Macron regten an, 500 Milliarden Euro lockerzumachen. Erst dann zog die Kommission mit 750 Milliarden für das Projekt „Next Generation EU“ nach.

Warum die Verzögerung? Ganz einfach weil von der Leyens europäisches Wertekollektiv ein Mythos war und ist, allein geeignet, falsche Erwartungen zu wecken. Weshalb die EU nicht endlich als Konkurrenzgesellschaft begreifen? Sie ist es. In der Krise allemal. Wie wäre sonst zu erklären, dass bei der Tilgung der Kredite aus dem Corona-Fonds jeder für sich allein haftet und begleicht? Italien etwa, dem der nicht rückzahlbare Zuschuss von 82 Milliarden Euro wenig hilft, wenn das Land selbst bei günstigsten Prognosen ab 2024 mit Gesamtschulden jenseits der 1,6 Billionen Euro rechnen muss. Und warum eskaliert gerade jetzt die Wertekonkurrenz zwischen dem westeuropäischen EU-Altbestand und Ostländern wie Ungarn und Polen. Das Europa der politischen Gegenläufigkeit sollte zum Wettbewerb der Ideen stimulieren, statt Dissidenten wie Abtrünnige zu reglementieren. Freilich müsste man dazu die Dinge nehmen, wie sie sind, und nicht verklären.

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