Eines blieb offen. Wollte Ursula von der Leyen mit ihrer ersten State-of-the-Union-Rede vor dem Europaparlament die Hoheit über die Köpfe oder die Gemüter gewinnen? Wer ihr zuhörte, glaubte Letzteres bei all den mit emphatischer Inbrunst und Pathos vorgetragenen Ansagen. Auf die Dauer wirkte das nicht nur ermüdend, es erstaunte zugleich. Immerhin ging die Kommissionspräsidentin ein Risiko ein. Es bestand darin, das Deklamierte einem Tauglichkeitstest auszusetzen, wollte man es abgleichen mit EU-Realpolitik.
Hatte von der Leyen im Parlamentsplenum nicht nur am Pult, sondern auch auf dem Boden der Tatsachen gestanden? Wenn ja, dann müsste auf dem nächsten EU-Gipfel Folgendes passieren: Die 27 Regierungschefs einigen sich, das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) spätestens bis Ende 2020 zu reformieren. Weiter wird entschieden, und zwar unwiderruflich, dass bis 2030 EU-weit 55 Prozent der CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 entfallen. Es gibt den Konsens, auf weitere Brexit-Verhandlungen zu verzichten, da eine Mehrheit im britischen Unterhaus vom Binnenmarktgesetz nicht lassen will. Beschlusslage ist, die Regierung Erdoğan wird wegen ihres aggressiven Verhaltens im Mittelmeer mit Sanktionen belegt, nicht nur die Führung von Belarus damit bedroht. Schließlich erhält die Debatte über den Haushalt von 2021 bis 2027 einen ultimativen Schub, um der EU-Legislative zu bedeuten, dass sie möglichst bald ihr Votum zum Etat und dem beim Vier-Tage-Gipfel im Juli mühsam vereinbarten Corona-Hilfsfonds abgeben muss. Nur dann – die Zustimmung der nationalen Parlamente vorausgesetzt – kann ab Januar Geld fließen.
So etwa sähe die Agenda des Unausweichlichen aus. Sie würde der Aussage von der Leyens gerecht, „dass wir in den vergangenen Monaten den Wert unserer Gemeinsamkeiten wiederentdeckt haben“. Ist diese Wiederentdeckung keine Halluzination, sollte sich das dort auswirken, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Passiert aber nicht.
Natürlich lässt sich nachvollziehen, dass die Kommissionschefin bei der Flüchtlings- und Klimapolitik, der Digitalisierung wie den Corona-Hilfen jetzt vorlegen will, um nicht erneut hinterherzulaufen. Bekanntlich gab es den ersten Aufschlag zur EU-Krisenabwehr am 18. Mai in Berlin und Paris, nicht in Brüssel. Kanzlerin Merkel und Präsident Macron regten an, 500 Milliarden Euro lockerzumachen. Erst dann zog die Kommission mit 750 Milliarden für das Projekt „Next Generation EU“ nach.
Warum die Verzögerung? Ganz einfach weil von der Leyens europäisches Wertekollektiv ein Mythos war und ist, allein geeignet, falsche Erwartungen zu wecken. Weshalb die EU nicht endlich als Konkurrenzgesellschaft begreifen? Sie ist es. In der Krise allemal. Wie wäre sonst zu erklären, dass bei der Tilgung der Kredite aus dem Corona-Fonds jeder für sich allein haftet und begleicht? Italien etwa, dem der nicht rückzahlbare Zuschuss von 82 Milliarden Euro wenig hilft, wenn das Land selbst bei günstigsten Prognosen ab 2024 mit Gesamtschulden jenseits der 1,6 Billionen Euro rechnen muss. Und warum eskaliert gerade jetzt die Wertekonkurrenz zwischen dem westeuropäischen EU-Altbestand und Ostländern wie Ungarn und Polen. Das Europa der politischen Gegenläufigkeit sollte zum Wettbewerb der Ideen stimulieren, statt Dissidenten wie Abtrünnige zu reglementieren. Freilich müsste man dazu die Dinge nehmen, wie sie sind, und nicht verklären.
Kommentare 10
- ein --->mythos(wikipedia)
hat eine nachhaltige wirkung auf die bewußtseine/handlungs-motive
vieler menschen, einer groß-gruppe, die durch ihn gebildet wird.
- wenn es ein "europäisches werte-kollektiv" gibt,
was ist dann der inhalt dieser bewußtseine, wie weit reicht sein radius,
was davon ist belastbar?
Ganz einfach weil von der Leyens europäisches Wertekollektiv ein Mythos war
Das ist ein Mythos-Mythos. Es beginnt schon damit, dass behauptet wird, es sei "von der Leyens Wertesystem" (was deren Werte sind, wäre erst einmal zu klären, wenn sie nicht schon wieder gelöscht sind). Es geht damit weiter, dass man behauptet, dieses Wertesystem beruhe auf einer integrierten Europäischen Union. Das osteuropäische oder mitteleuropäische unterscheidet sich in einigen Teilen vom westeuropäischen.
Trotzdem gibt es ein europäisches "Wertekollektiv", bei dem allerdings Ungarn derzeit ausfällt. Es ist ein Staatenbund der Konkurrenz und der Kooperation, der sich immer wieder neu auf das einigen muss, wofür die Union zuständig sein soll, und wofür die Mitgliedsstaaten. Eine Union, die Polen nicht überzeugen und Großbritannien nicht halten kann, ist eine schwache Union, gerade weil sie zuviele Zuständigkeiten für sich will.
Die will aber jede politische Klasse, auch auf nationaler Ebene.
Aufschlussreich wäre eine Antwort auf die Frage, was unter den obwaltenden Umständen die in den 1990er Jahren aufkommende Theorie von einem Kerneuropa und seinen Randzonen noch wert ist.
Ich kenne („Flinten-Uschi“) Frau von der Leyen nur als schwülstige Scharfmacherin, die ihre schwülstigen Botschaften auch gerne mit Schönrederei unter das Volk bringt und von denen wohl nur sie selbst glaubt, dass es sich dabei um Visionen handelt. Sie redet noch den größten Quatsch schön, aber immer im Sinne der aggressiven westlichen Mainstream-Politik. – Die Frau verkörpert für mich charakterlose Beliebigkeit. Die verkauft auch morgen wieder Pferde, wenn es opportun ist. Solchen Persönlichkeiten ist es egal, was sie tun – sie wollen nur gut aussehen.
" Immerhin ging die Kommissionspräsidentin ein Risiko ein. Es bestand darin, das Deklamierte einem Tauglichkeitstest auszusetzen, wollte man es abgleichen mit EU-Realpolitik."
Nun ja, von der Leyen geht/ging kein anderes Risiko, als alle anderen Politiker auch. Eines zeichnet die Europäische Union aus: Es wird viel von Werten geredet, die man gern propagiert, vor sich her trägt und gern die ganze Welt daran misst.
Nur lässt sie sich eben nicht selbst daran messen.
geht es um den auftritt, bei dem sie "europe's man on the moon moment" gesagt hat? der war - bizzar.
noch schräger war das event, bei dem sie das ezb-milliarden-druckprogramm bekannt gab. eine von dwayne "the rock" johnson moderierte show im aufregenden stil der gala des deutschen fernsehpreises, aber mit hollywoodsternchen, die irgendwas bestelltes laberten. das nahm einen richtig an die hand auf dem weg in die totalverblödung.
@J.R.'s China Blog
"Das ist ein Mythos-Mythos. Es beginnt schon damit, dass behauptet wird, es sei "von der Leyens Wertesystem" (was deren Werte sind, wäre erst einmal zu klären, wenn sie nicht schon wieder gelöscht sind)."
hihi. das läuft bei mir auch ständig mit, wenn ich sie was reden höre. hat man nie wieder was gehört von.
Die Erwartung ist die Mutter der Enttäuschung. Das Röschen darf aber den Papa nicht enttäuschen, no go! Europa spricht niemals mit einer Stimme und schon garnicht unter germanischer Dominanz. Ebenso wenig ist die enge Achse franco-allemand einend. Durch den Brexit ist dies der Welt überdeutlich vorgeführt. Den Klimawandel als Einigungszwang zu verstehen ist illusionär. Die zerstrittene EU wurstelt sich im sog. "New Green Deal" letztlich auf alten, eingefahrenen Strassen weiter durch. Zu wenig, not enogh! Uschi`s persönlicher Karriereweg in die 13ième étage in Brüssel fand statt, ja, schon, doch das war es dann aber auch, Papa!
Als die Wahl auf Ursula von der Leyen fiel, war beschlossen, welche Rolle die EU Präsidentin einzunehmen hat: die konservative Presse bringt es auf den Punkt, und ausnahmsweise widersprechen ihr (irgendwie) linke und liberale Medien nicht:“tin-pot bureaucrat“. Und nebenbei, mehr kann sie auch nicht!
..."Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen will verhindern, dass ihr erkrankter Vater Ernst Albrecht vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestages aussagen muss. Der frühere Ministerpräsident Niedersachsens leide an Alzheimer.
"Der Untersuchungsausschuss kann selbstverständlich jederzeit alle ärztlichen Atteste einsehen", sagte von der Leyen der Welt . Ihr Vater sei seit 2008 geschäftsunfähig, werde rund um die Uhr betreut und lebe in seiner eigenen, inzwischen sehr kleinen Welt.
Die niedersächsischen Grünen hatten angekündigt, Albrecht im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Atom-Lager Gorleben anhören zu wollen. Landtags-Fraktionschef Stefan Wenzel sagte der Bild-Zeitung : "Albrecht soll erklären, warum das damalige Auswahlverfahren abgebrochen und der Standort Gorleben vollkommen willkürlich ausgewählt wurde."...
So ist das mit der Millionen Jahre Halbwertzeit von Plutonium, vorher an Alzheimer erkrankt.
Eine PatientIN
"Eine PatientIN" Gott, Sie leiden unter schwerer, fortschreitender Demenz? ;)
Die Gorleben Saga hat Albrecht in Gang gesetzt, aufgrund eines Kuhhandels... und aufgrund unsagbarer Ignoranz, für die die Diagnose "Blödheit" eine Fehldiagnose wäre, denn auch Blödigkeit hat ihre Grenzen.
Ich habe als Werkstudentin bei der GSF gearbeitet, da waren sich die Physiker damals schon (unter der Hand) einig, dass Gorleben nicht geeignet ist. Nun geht die Endlagergeschichte in eine neue Runde….
Dass Albrecht nicht mehr aussagen musste wegen seiner schweren Erkrankung, das war rechtskonform. Bei allem Irrsinn, den Albrecht zu verantworten hatte, einen Dementen zerrt man zwecks Vorführung nicht vor Gericht. Das ist würdelos. Im Übrigen, waren die Umstände des Deals bekannt.
Wichtiger finde ich zu erinnern, wie/warum von der Leyen zu dem EU-Posten kam, obwohl/oder weil sie unter Beschuss wegen dieser Beraterverträge war etc., weil sie so will so willfährig ist ect.
Zu der Frage von Lutz Herden: Das mit dem Kerneuropa hat sich erledigt: Zum Beispiel Die Niederlanden etwa koaliert inzwischen u.a. mit Ländern wie Finnland, Dänemark, kleinen osteuropäischen Staaten gegen Eurobonds etc.. In der Corona-Krise ist das auch ein Warnschuss gegen Deutschland und Frankreich, nicht durch die Hintertüre -Coronabonds (s.Italien) Eurobonds salonfähig zu machen: von wegen „die Großen“...