Regimewechsel in Russland: Joe Biden holt aus und wirft zu weit

Meinung Die Aufforderung des US-Präsidenten Joe Biden zum Regimewechsel in Russland war unmissverständlich – aber ein Missverständnis, teilt sein Lektorat mit
US-Präsident Joe Biden in Warschau (26.03.2022).
US-Präsident Joe Biden in Warschau (26.03.2022).

Foto: Omar Marques/Getty Images

Es ist schon ein außergewöhnlicher Vorgang und ein ungewöhnlich peinlicher dazu. Erst das Weiße Haus, dann Außenminister Antony Blinken melden nach der Warschau-Rede von Joe Biden Korrekturbedarf an. „Dieser Mann darf nicht bleiben“, hatte der amerikanische Präsident in Richtung Wladimir Putin gesagt. Da sei keine Aufforderung zum Regimewechsel gewesen, versichert sein Lektorat.

Unbedingte Kontinuität

Was dann? Zumal Erfahrung eines Besseren belehrt. Dass sich US-Administrationen anmaßen, zu entscheiden oder Einfluss darauf zu nehmen, wer in anderen Ländern regiert, ist seit langem und durch Tatsachen verbürgt. Es gibt eine Tradition, eine geradezu historisch anmutende Kontinuität, sich dem Ansinnen zu verschreiben, regime change zu betreiben, wenn ein Regime nicht passt.

Wann immer man beginnt, diesbezüglich Bilanz zu ziehen – jener Eindruck bleibt. In den 1950er Jahren war der iranische Reformpremier Mohammad Mossadegh ebenso im Weg wie der guatemaltekische Präsident Jacobo Árbenz, der 1954 mit Hilfe der CIA aus dem Amt geputscht wurde.

Kommen die letzten 40 Jahre in Betracht, wäre an 1983 und die Karibikinsel Grenada zu erinnern, auf der eine progressive Regierung durch eine US-Intervention zu Fall kam. Es folgte 1989 der Sturz des missliebigen Staatschefs Manuel Norriega in Panama. 1999 war der NATO-Luftkrieg gegen Restjugoslawien der Hebel, um Slobodan Milosevic in Belgrad zu entmachten. 2001 wurden die Taliban in Afghanistan per US-Invasion abgeräumt, 2003 folgte Saddam Hussein im Irak, 2011 Muammar al-Gaddafi in Libyen. Unterschiede gab es in der Intensität des Militäreinsatzes, nicht aber im Ergebnis. Präsident Assad in Syrien rettete vermutlich die libysche Erfahrung, dass regime change und failed state verschwistert sein können, also nach dem Eingriff politische Nachsorge vonnöten ist. Das hätte in Syrien Besatzung bedeutet, für die USA die Aussicht auf ein Himmelfahrtskommando, genauso für mögliche NATO-Partner, die sich zu Beistand hätten aufraffen müssen (s. Afghanistan).

Gegen die halbe Welt

Ein Part aus der Warschau-Rede des US-Präsidenten wurde weder vom Weißen Haus noch von Blinken relativiert: der von Biden ausgerufene Feldzug Demokratie gegen Autokratie. Kommt es dazu, stehen auf der anderen Seite der Grabens nahezu alle für die Vereinigten Staaten relevanten Staaten in Nahost und Nordafrika, die autoritär regiert sind.

Angefangen mit Ägypten und Jordanien, über den bisherigen Vorzugsalliierten Saudi-Arabien bis hin zu sämtlichen Golfstaaten. Und fällt nicht der alles andere als demokratisch verfasste NATO-Verbündete Türkei unter das Verdikt, eine De-Facto-Autokratie zu sein? In Südamerika wäre der Regionalmacht Brasilien der Kampf angesagt, solange dort Jair Bolsonaro regiert, Kuba sowieso, die Annäherung zwischen den USA und Venezuela wäre obsolet.

Ist in Asien China zum Hauptgegner erkoren, kämen die postkommunistischen Staaten Indochinas – Vietnam, Laos und Kambodscha – hinzu. Andere ASEAN-Staaten sind ebenfalls keine lupenreinen Demokratien, von Myanmar ganz zu schweigen. Da braucht es eine geballte Ladung gegen diese geballte Macht. Der Westen ist nicht die ganze Welt – aber auf dem Kreuzzug gegen die halbe Welt? Hoffentlich ist man sich in Deutschland im Klaren darüber, was es bedeutet, für diesen Aufmarsch vereinnahmt zu werden.

Bidens Messianismus erinnert an den Präsidenten George W. Bush, den nach 9/11 imperiale Hybris dazu trieb, „das Böse“ aus der Welt tilgen zu wollen. Offenbar brauchen US-Regierungen von Zeit zu Zeit die religiös wirkende Aufwallung und die Preisgabe des realpolitischen Blicks, um sich mit Selbstbewusstsein zu verproviantieren. Da fällt es dann auch nicht weiter ins Gewicht, wenn Biden sein Hochamt ausgerechnet in Warschau zelebriert, wo eine Regierung residiert, deren Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der EU als Zumutung gilt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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