Rote Linie, weiße Salbe

Syrien US-Präsident Obama vermeidet übereilte Schritte und forsche Erklärungen zum syrischen Bürgerkrieg. Eine Intervention birgt im Augenblick viel zu große Risiken
Was vom historischen Markt in Aleppo übrig blieb
Was vom historischen Markt in Aleppo übrig blieb

Foto: AFP - Photo

Gibt es in diesem Bürgerkrieg nicht „rote Linien“ zuhauf? Wer kann ernsthaft behaupten, sie würden erst durch den Einsatz von Chemiewaffen überschritten? Dass diese Selbstzerfleischung bereits 26 Monate dauert und fast 80.000 Menschenleben zu beklagen sind, bezeugt einen Zivilisationsbruch sondergleichen.

Es gab Massaker in Homs am 4. Februar 2012, am 25. Mai in dem Ort al-Hula, am 13. Juli in Hama, dazu kamen immer wieder Bombenanschläge und Attentate in Damaskus, bei denen Hunderte von Menschen starben. Die Konfliktparteien beschuldigen sich gegenseitig, für diese Barbarei verantwortlich zu sein. Wer recht hat, wen die Schuld trifft, wird möglicherweise erst in Jahren oder nie bekannt. Aber das ändert nichts daran, dass jede Massentötung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist und eine „rote Linie“ markiert, die nicht überschritten werden sollte.

Wenn ein Staat oder eine Regierung nicht mehr in der Lage ist, derartige Gewaltakte zu verhindern und die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren, ist das theoretisch ein Fall für das Prinzip der „Schutzverantwortung“ (responsibility to protect), wie es im September 2005 auf dem damaligen UN-Gipfel formuliert wurde. Ob eine derartige Schutzverantwortung beim Fall Syrien von außen wahrgenommen werden sollte oder muss, ist damit nicht gesagt. Doch werden bei einem Bürgerkrieg, der in dieser Härte geführt wird, unablässig „rote Linien“ missachtet, wie sie mit den Bedingungen definiert sind, die zur Übernahme von Schutzverantwortung führen können.

Sie reichen von Völkermord, über Kriegsverbrechen bis zu ethnischen Säuberungen. Dass sich all das auch ohne Chemiewaffen bewerkstelligen lässt, dürfte niemand bestreiten.

Dosierte Eskalation

Als im Juli 2012 ein türkischer Militärjet vor der syrischen Küste abgeschossen wird, ist damit für die Regierung Erdogan „eine rote Linie“ überschritten. Erst recht, als beim Granaten-Beschuss über die gemeinsame Grenze hinweg am 3. Oktober 2012 in der Ortschaft Akcakale fünf Menschen sterben. Die syrische Regierung entschuldigt sich zwar sofort und sagt eine Untersuchung zu, doch Ankara schießt zurück und versetzt die eigenen Streitkräfte in Alarmbereitschaft.

Dass es bei einer dosierten Eskalation bleibt, ist vermutlich einer zaudernden NATO zu verdanken, die – statt den „Bündnisfall“ auszurufen – dem türkischen Partner nur den „Beratungsfall“ zubilligt und wenig Neigung zeigt, von regionalmächtigem Übermut auf die schiefe Bahn eines schwer kalkulierbaren Eingreifens gelockt zu werden. Besänftigt wird die Türkei schließlich mit der Stationierung von Patriot-Abwehrsystemen aus mehreren NATO-Staaten (u.a. aus Deutschland) an der Grenze zu Syrien. Damit lassen sich zwar keine Panzer- oder Artillerie-Granaten der anderen Seite abfangen, aber Luftkorridore oder Flugverbotszonen absichern, sollten die eines Tages erwünscht sein, um auf diese Weise in den Bürgerkrieg anzugreifen.

Noch vor Jahren hätte unter vergleichbaren Umständen möglicherweise nur eines der hier erinnerten Geschehnisse gereicht, um westliche Ordnungsmacht in Marsch und Szene zu setzen. Warum nicht bei diesem Bürgerkrieg, der doch sogar in den Schatten stellt, was sich in den neunziger Jahren auf dem Balkan abgespielt hat?

Erstaunliche Schizophrenie

Um das Bild abzurunden: „Rote Linien“ haben nicht nur in Syrien ihre Bedeutung eingebüßt. Auch Frankreich und Großbritannien sind gerade dabei, jedes Maß für Mäßigung zu verlieren, wenn sie das Anti-Assad-Lager mit Waffen beschicken wollen, um Öl in ein Feuer zu gießen, das sich schon jetzt unaufhaltsam durchs Land frisst. Wer solche Parteinahme betreibt, schickt die Diplomatie ins Laufrad der Vergeblichkeit und sorgt dafür, dass dieser Konflikt nur militärisch entschieden werden kann. Der fragt nicht, was von Syrien übrig bleibt, bis es soweit ist. Der verdrängt die Frage, was darauf folgt. Ein Staat, in dem die syrischen Muslim-Brüder einen noch schrilleren Ton pfeifen als die ägyptischen?

In Syrien stehen sich Glaubensgemeinschaften und Volksgruppen inzwischen mit solch unbändigem Hass gegenüber, dass bei einer Niederlage Assads ein Genozid an den Alawiten und – zumindest – Repressalien gegen die christliche Minderheit denkbar sind. Was werden die USA oder die Vereinten Nationen tun, wenn diese „rote Linie“ genommen wird? Zuschauen wie 1994 in Ruanda, bis die Killing Fields inspiziert werden können, um die Leichen zu zählen?

Kein Zweifel, der Westen hat sich mit seiner aus Affekten statt Interessen gespeisten Syrien-Politik verrannt. Und das hoffnungslos. Besonders Frankreich, Großbritannien und die USA, aber auch Deutschland, sind Opfer eines stoischen Assad-muss-weg-Syndroms, das nicht eben rational wirkt. Es zeugt von beachtlicher Schizophrenie, das letzte säkulare Regime in Arabien schleifen zu wollen, zugleich aber die im Sog der Arabellion fortschreitende autoritäre Islamisierung in Ägypten, Tunesien, Jemen oder Libyen zu beklagen und sich in Mali dem dschihadistischen Furor gar mit einer Intervention entgegen zu stellen.

Um diese Absurdität zu erkennen, muss man sich nur vor Augen halten, wie unterschiedlich – um nicht zu sagen: gegensätzlich – die USA und Israel auf den mutmaßlichen Gebrauch von Chemiewaffen in Syrien reagieren? Für die US-Administration hätten sich damit „die Spielregeln verändert“, so das Weiße Haus. (Gab es die je in diesem Bürgerkrieg?). Barack Obamas nebulöse Formel wird allenthalben als Drohung gegen Assad verstanden. Die Regierung Netanjahu sagt hingegen unumwunden: Israel werde zu verhindern wissen, dass Chemiewaffen-Depots der syrischen Regierungsarmee in die Hände dschihadistischer Freischärler fallen. Im Klartext heißt das, wenn aus diesem Grund interveniert wird, dann gegen die Rebellen.

Deutet nicht Präsident Obama das genaue Gegenteil an? Die mögliche Errichtung von Flugverbotszonen, um Assads Luftwaffe zu neutralisieren und den Rebellen mehr operative Freiheiten zu verschaffen?

Bis zum letzten Schuss

Die konzeptionelle Blöße des Westens gegenüber einer im Umbruch begriffenen Weltregion werden nirgendwo offensichtlicher als bei Syrien. Sie wird von Zeit zu Zeit mit weißer Salbe bestrichen, wie Otto von Bismarck einst politische Handlungen nannte, die zu nichts weiter gut sind als fortwährendem Selbstbetrug.

Dieser hat etwas mit jener faszinierenden Wahrheit zu tun, die bisher verhindert hat, dass Bashar al-Assad (noch) nicht das Schicksal von Muammar al-Gaddafi teilen muss. Der Umgang des Westens mit Syrien offenbart, das Zeitalter der Interventionen, wie es nach dem Epochenbruch von 1990 leichtfertig eingeläutet wurde, könnte sich erledigt haben. Je größer die Risiken, desto höher die Hemmschelle. Somalia, Irak und Afghanistan sind noch nicht wirklich verkraftet worden.

Soll man sich da an Syrien heranwagen und ein Besatzungsregime errichten, das eine islamistische Autokratie verhindert? Es hat sich doch herumgesprochen: Die politische Nachsorge interventionistischer Eingriffe in das Dasein von Staaten und Gesellschaften hat die USA und ihre jeweiligen Verbündeten bisher total überfordert. Westliche Ordnungsmacht funktioniert nur bis zum letzten Schuss. Nicht darüber hinaus.

In Libyen wurde mit Oberst al-Gaddafi nicht nur ein von seiner missionarischen Aura verzückter Autokrat, sondern auch ein Stabilitätsfaktor in Nordafrika entsorgt. Die islamistisch gefärbte Sezession in Nordmali hätte es in dieser Intensität kaum ohne die innere Erosion Libyens gegeben. Wozu erst würden der Zerfall und die Islamisierung Syriens führen? Wer sich da exponiert, kann sich nur übernehmen.

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