Raubbau am System: „Regelbasierte Ordnung“ wird schon seit Jahrzehnten gebrochen
Ukraine-Krieg Nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, sondern schon seit Beginn des Jugoslawien-Kriegs im Jahr 1991, kann von keiner belastbaren Sicherheitsordnung mehr die Rede sein. Offen ist auch, ob es die jemals wieder geben wird
Winziges Zeichen des Lichts: Eine Sonnenblume in den Trümmern eines Wohnhauses in Charkiw
Foto: Paula Bronstein/Getty Images
Wird Russland wegen seines Angriffskrieges auf die Ukraine derzeit aus dem Kreis zurechnungsfähiger und zivilisierter Staaten verbannt, genießt ein Argument einen besonderen Stellenwert. Es lautet, am 24. Februar 2022 sei mit einer „regelbasierten Ordnung“ gebrochen worden. Was ist darunter zu verstehen? Ein System staatlicher Beziehungen, das neben rechtlichen Standards internationalen Verträgen Priorität einräumt, die der Maxime „Pacta sunt servanda“ folgen? Trifft das zu, dann muss es verblüffen, wenn Ex-Kanzlerin Angela Merkel jüngst in Interviews zu verstehen gab, der von ihr 2015 mit ausgehandelte Minsk-II-Vertrag – immerhin unter deutsch-französische Schirmherrschaft gestellt – sei nur „Zeitspiel“
220; gewesen. Man wollte die Ukraine in die Lage versetzen, russischem Druck standzuhalten und für einen späteren Kriegsfall gerüstet zu sein.Wer bis dahin geglaubt hatte, „Minsk II“ sollte das Sterben im Donbass beenden durch Waffenstillstand, Truppenentflechtung und Autonomielösung, sah sich zum gutgläubigen Tölpel degradiert, der geglaubt hatte, Merkel verkörpere Integrität, statt doppelzüngig zu sein. Schlagartig war klar, weshalb es bei „Minsk II“ nie nennenswerte Fortschritte gab. Gewiss war der Offenbarung zu konzedieren, dass Merkel für eine „gescheiterte Russland-Politik“ in Haftung genommen war. Kleine Befreiungsschläge erschienen opportun. Nur änderte das nichts an der bestürzenden Erkenntnis, dass ein Abkommen, dem bis dahin pragmatischer Verständigungswille attestiert wurde, als Täuschung gedacht war. Was blieb vom Fairplay deutscher Außenpolitik? War ihr von der Verfassung (Art. 26) kein friedensstiftender Auftrag erteilt, der auf gegenseitiges Vertrauen zwischen Staaten Wert legt? Worauf sonst sollte eine „regelbasierte Ordnung“ aufbauen? Man hatte Merkel bei aller Russland-Aversion stets ein konstruktives Kalkül zugebilligt und musste nun erfahren, dass sie am Ausverkauf von Umgangsformen beteiligt war, die Staaten davor bewahren konnten, in vergiftete Beziehungen abzugleiten.Wirkt seit Ausbruch des Ukraine-Krieges jeder Anspruch auf Diplomatie so blutleer, ist das nicht allein den Vorbehalten der Kriegsparteien und des Westens geschuldet, sich darauf einzulassen. Dieses Ressentiment dürfte auch in der Gewissheit wurzeln, dass Diplomatie keine Basis mehr hat, was Unsicherheit darüber einschließt, wie denn mit Verhandlungsresultaten zwischen Kiew und Moskau umzugehen wäre. Inwieweit würden sie beherrschbar im Sinne von durchsetzbar sein? Verweist eine Ex-Regierungschefin einen Vertrag ins Reich der alternativen Fakten – ja, es gab ihn, aber er wurde nicht geschlossen, um gültig zu sein –, worauf kann man sich dann noch verlassen? Wie berechenbar ist deutsche Außenpolitik? Dabei geriet ihr dieses fatale „Vielleicht“ nicht durch Wladimir Putin, sondern ganz und gar selbstbestimmt ins Portfolio. Es ist schlichtweg Raubbau, dem eine „regelbasierte Ordnung“ seit Jahrzehnten ausgesetzt wird, wenn ihr das Rückgrat aus Verträgen und Vertrauen verlorengeht. Einige Beispiele mögen genügen. 2002 verließen die USA den ABM-Vertrag mit Russland zur Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme, der gegenseitige Verwundbarkeit als Hemmschwelle für thermonukleare Konflikte festschrieb. 2019 erklärte die Trump-Administration ihren Ausstieg aus dem INF-Abkommen über atomare Mittelstreckenraketen, weil sich Russland nicht daran halte. Ein Jahr zuvor cancelte die gleiche Regierung den Iran-Atom-Vertrag. Seit 2020 ist die Open-Sky-Übereinkunft Makulatur, die seit 1992 für den Luftraum souveräner Staaten festgelegte Überflugrouten garantierte. Bezeichnenderweise hatte der am 21. Februar 2014 in Kiew mit der Autorität Deutschlands, Frankreichs und Polens besiegelte Vertrag zur Machtteilung zwischen dem Präsidenten Viktor Janukowitsch und der Opposition keine 48 Stunden Bestand. Längst abgeräumt ist heute jene vertragsbasierte Ordnung, die neben Sicherheitsbedürfnissen zugleich dem Sicherheitsgefühl konträrer Systeme während des bipolaren Zeitalters Rechnung trug. Dies nach 1990 aufzugeben, hieß auf den ordnungspolitischen Rahmen zu verzichten, der Sicherheitsinteressen von Staaten nicht nur beachtete, sondern gegeneinander abgrenzte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten das die Siegermächte von 1945 im Bewusstsein ihrer Gegensätze für unverzichtbar gehalten. Sie verständigten sich auf das – selbstredend machtpolitisch gefärbte – System von Jalta, das bei allen Krisen eine regelbasierte Koexistenz der Antagonismen bis 1990 aufrechterhielt. Diesem Arrangement wird mittlerweile jede Würdigung versagt. Schließlich habe es die Erstarrung in Ost und West festgeschrieben. Freilich besaß es soviel Geschichtsbewusstsein, Europa fast ein halbes Jahrhundert lang Kriege zu ersparen.Präzedenzfall JugoslawienFür Jalta keinen adäquaten Ersatz zu suchen, entsprach dem Selbstverständnis der Siegermächte von 1990. Sie wollten nicht, was ihnen angesichts vermeintlich geklärter Machtverhältnisse in Mittel- und Osteuropa verzichtbar erschien. Ob dies fahrlässig war oder ignorant, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wurden damit Erfordernisse ausgeblendet, die sich aus dem Entstehen neuer Staaten ergaben, deren Verhältnis absehbar gestört, wenn nicht feindselig sein würde. Das ließ nach Umgangsformen fragen, die in einer verbindlichen europäischen Hausordnung (hatte nicht Gorbatschow ein „Europäisches Haus“ empfohlen?) bestens aufgehoben waren. Zählte die KSZE im November 1990 noch 32 europäische Länder, dazu die USA und Kanada, die man zum Wende-Gipfel nach Paris rief, hatte der Nachfolger OSZE fünf Jahre später 57 Mitgliedsstaaten. Hinfällig war das Axiom, welches durch Jalta verbrieft und mit der KSZE-Schlussakte von 1975 ausdrücklich bestätigte wurde: Die Grenzen in Europa sollten unantastbar sein. Grenzen als nicht hinnehmbar zu verwerfen, zu verletzen und zu überschreiten, hatte bis 1945 einen ganzen Kontinent in einen latenten Vorkrieg versetzt. Daraus Lehren zu ziehen, war für gegnerische Akteure, wie sie mit dem West- und Ostblock bis 1990 existierten, ein bemerkenswerter, da friedensstiftender Konsens. Seither kann davon keine Rede mehr sein. Im Sog postsowjetischer Konflikte kam es zur gewaltsamen Grenzrevision zwischen Armenien und Aserbaidschan, Moldawien und Transnistrien, Russland und der Ukraine. Zum Präzedenzfall wurden die Jugoslawien-Kriege 1991 bis 1999, als neue Staaten alte Grenzen gewaltsam veränderten, durch den Westen politisch begünstigt, teils militärisch durchgesetzt. Man denke an die frühzeitige Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland, ohne dass eine vertragsbasierte „postjugoslawische“ Lösung gefunden war, die alle Nachfolgestaaten einbezog. Zu erinnern wäre an die durch einen NATO-Luftkrieg ohne völkerrechtliche Legitimation erzwungene Sezession des Kosovo von Serbien. Insofern hatte sich eine regelbasierte europäische Ordnung lange vor dem 24. Februar 2022 erledigt. Davon wird nichts auferstehen, solange Stimmungen einer Politik die Zügel freigeben, der nichts verpönter ist als das inzwischen für anstößig gehaltene Vertrauen auf die Vernunft.