Russland-Sanktionen bergen Gefahr ökonomischer Selbstverstümmelung des Westens

Meinung Die historische Erfahrung lehrt, dass sich der politische Erfolg von Sanktionen gegen Staaten in Grenzen hält. Bei Russland wird das kaum anders sein
Ausgabe 23/2022
Sanktionen gegen Russland stärken die Executive in Moskau
Sanktionen gegen Russland stärken die Executive in Moskau

Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Die EU kann diesen Krieg nicht verlieren, sie wird ihn gewinnen. Während die Bundesregierung bei ihren Wünschen zum Ausgang der Schlacht um die Ukraine nebulös bleibt, ist an der ökonomischen Front gegen Russland alles klar. Niemand aus dem Kabinett widerspricht, wenn sich Wirtschaftsminister Robert Habeck im Parlament weit aus dem Fenster lehnt. Wladimir Putin stehe vor einem Scherbenhaufen, der wirtschaftliche Zusammenbruch sei unausweichlich, nur noch eine Frage der Zeit.

Eine verblüffende Prophezeiung, nachdem das soeben mühsam geschnürte sechste EU-Sanktionspaket weniger wog als gewollt. Ungarn, die Slowakei und Tschechien bleiben als Ölimporteure im Geschäft mit Russland. Durch die Drushba-Pipeline fließt weiter Öl nach Deutschland, die russischen Staatsfonds wachsen rasant auf 198 Milliarden Euro. Die Zuversicht, einen zum Feind erklärten Gegner in die Knie zu zwingen, hat 2017 in ähnlicher Weise Donald Trump übermannt, als er aus dem Atomvertrag ausstieg und dem Iran ein drakonisches Wirtschaftsembargo überhalf. In Washington wurde ein zweistelliges Minus beim Bruttoinlandsprodukt, eine Inflation um die 40 Prozent und ein außenwirtschaftliches Austrocknen vorhergesagt. Indes, es kam schlimm, aber nicht zum Kollaps. Insofern sollte Habeck weniger Wunschdenken verfallen, als jahrzehntelanger Erfahrung vertrauen. Der mit harten Sanktionen angerichtete Schaden war häufig enorm, der Erfolg – gemessen an den politischen Zielen – eher gering.

Man denke an Kuba, Nordkorea, Venezuela, China, den Irak, den Sudan, Nicaragua. Oder eben an den Iran, wo die Wucht westlicher Strafmaßnahmen zu keinem Zeitpunkt einem Regime Change Vorschub leistete, sondern Gegenteiliges bewirkte. Reformwilliges Personal des theokratischen Establishments wie die Präsidenten Mohammad Chātami (1997 – 2001) und Hassan Rohani (2013 – 2021) gerieten unter Druck konservativer Gegner. Sie sollten Härte zeigen oder abtreten. Und dann? Mit Mahmud Ahmadineschād hätte sich kaum ein Nuklearabkommen schließen lassen.

Sanktionen sind als kollektive Bestrafung kontraproduktiv

Sanktionen werden dann zur Fortschreibung von Politikverweigerung mit ökonomischen Mitteln, wenn ihnen nur der Angriff wichtig, das Angebot zur Verständigung aber suspekt ist. Vor allem Deutschland hat sich in den Wirtschaftskrieg gegen Russland derart hineingesteigert, dass schon eine minimal verringerte Feuerkraft nach Rückzug riecht.

Dabei liegen die aus westlicher Sicht kontraproduktiven Effekte auf der Hand. In Russland wird durch den Sanktionsfuror unweigerlich die Exekutive gestärkt. Es ist der Staat, der bei ausbleibenden externen Investitionen für die Privatwirtschaft und Defiziten bei der Versorgung für Abhilfe sorgt und eine Kriegswirtschaft organisiert. Wer sonst? Wie sehr die Menschen getroffen, die Bedürftigsten noch bedürftiger werden, kann nur der Staat als sozialer Dienstleister auffangen, was seiner Autorität ebenfalls nützt.

Ganz abgesehen davon, dass patriotische Gefühle in Wallung geraten, wenn der Eindruck entsteht, einer Welt von Feinden ausgesetzt zu sein. Das Aushalten im Großen Vaterländischen Krieg (1941 – 1945) ist dazu angetan, dass kollektives Bestrafen auf ein kollektives Erinnern stößt. Dies zu unterschätzen, erscheint umso riskanter, je mehr die mit den Sanktionen einhergehende ökonomische Selbstverstümmelung des Westens den Durchhaltewillen der eigenen Bevölkerung braucht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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