Sansculotten

Frankreich „La France insoumise“ will radikal sein
Ausgabe 36/2018
Jean-Luc Mélenchon verpasste bei einem Stimmenanteil von 19,6 Prozent nur knapp das Stechen mit Emmanuel Macron
Jean-Luc Mélenchon verpasste bei einem Stimmenanteil von 19,6 Prozent nur knapp das Stechen mit Emmanuel Macron

Foto: Philippe Lopez/AFP/Getty Images

Dies war ein Indiz für die von einem Beben erfasste Parteienlandschaft in Frankreich, doch ebenso für den Embryonalzustand einer linken Gruppierung wie „La France insoumise“ (FI/Unbeugsames Frankreich), die als Wahlverein in Erscheinung getreten war: Erst konnte Jean-Luc Mélenchon als FI-Kandidat in Runde eins der Präsidentenwahl am 23. April 2017 gut sieben Millionen Franzosen von sich überzeugen und verpasste bei einem Stimmenanteil von 19,6 Prozent das Stechen mit Emmanuel Macron nur knapp. Und dann erhielt La France insoumise kurz darauf beim Votum über die künftige Nationalversammlung nur noch 2,5 Millionen Stimmen, was wegen des Mehrheitswahlrechts für lediglich 17 Mandate reichte. Und das trotz des Absturzes der Sozialisten, die 30 Sitze holten. Offen blieb die Frage, ob FI auch wegen des gemiedenen Bündnisses mit dem Parti Communiste (PCF) nur mäßig abgeschnitten hatte. Die Kommunisten waren als Alliierte unerwünscht, sie seien zu etabliert und belastet von einer Tradition der Kompromisse mit dem Parti Socialiste (PS), so die Begründung. Wer wie La France insoumise keine marginalisierte, sondern eine schlagkräftige und radikale Linke wolle, müsse sich davon absetzen. Also wurde und wird mit den Kommunisten konkurriert, wie das die FI-Vorgänger Parti de Gauche und Front de Gauche kaum anders hielten.

Inzwischen nimmt Jean-Luc Mélenchon für sich in Anspruch, linker Oppositionsführer zu sein, sei es durch den Beistand für die streikenden Eisenbahner der SNCF, den vehementen Protest gegen die Polizeigewalt am 1. Mai oder die Abwehr der Arbeitsmarktreformen Macrons. Ansonsten wird am Dresscode von La France insoumise noch gearbeitet, wiewohl der Wille erkennbar ist, weder Partei noch Organisation neuen Typs, sondern eine Gemeinschaft des linken Pluralismus zu sein, dem bindende Mitgliedschaften und hierarchische Strukturen fremd sind. Das heißt, programmatische Entschlüsse können bei FI-Meetings von FI-Anhängern gefasst werden, die per Lotterie ausgewählt sind. So urdemokratisch das gedacht sein mag, so sehr stärkt diese Praxis Führungsfiguren wie Mélenchon oder die FI-Parlamentarierin Danièle Obono als Sprecherin eines radikalen Antirassismus. Was sie an Charisma aufbieten, entscheidet über die Aura einer Partei in Bewegung, die auf Attribute der Arbeiterbewegung wie rote Fahnen oder den Internationalismus keinen gesteigerten Wert legt, stattdessen den griechischen Buchstaben Phi zum Parteisymbol erklärt hat.

Kaum mehr denkbar

Wovor sich die FI-Honoratioren nie gescheut haben, das ist ihr Bekenntnis zu einem linken Populismus, dessen Zeit gekommen, weil das Volk dafür reif sei. Ganz bewusst bedient die Partei damit die plebejische Passion der Französischen Revolution (1789–1794), als die Sansculotten mit ihren starken Armen die Diktatur der Jakobiner trugen, damit diese – sooft es ging – über den Schatten eines furchtsamen Klassenegoismus sprangen. Sollte La France insoumise eine vergleichbare Kraft aufbringen, wäre das ein Geschenk an die Nation und die authentische Linke in Europa. Es könnte eintreten, was kaum mehr denkbar scheint – die sozialen Stiefkinder der Gesellschaft wären erlöst und liefen nicht länger zu Rechtspopulisten über. Allein wegen dieser Möglichkeit könnten die Schicksale von La France insoumise und von „Aufstehen“ miteinander verabredet sein.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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