Schattenboxen mit Orbán

EU Die Mehrheit im Parlament will ein Strafverfahren gegen Ungarn wegen eines Verstoßes gegen EU-Normen. Fliegt deshalb auch die Orbán-Partei aus der EVP-Fraktion?
Der ungarische Premier bekam in Strasbourg wenig Schmeichelhaftes zu hören
Der ungarische Premier bekam in Strasbourg wenig Schmeichelhaftes zu hören

Foto: Frederick Florin / AFP - Getty Images

Die Osteuropäer haben es so gewollt, könnte man sagen, sich zurücklehnen und darauf verweisen, dass es eine freie und souveräne Entscheidung Ungarns war, um Aufnahme in die EU zu bitten und ab 2004 dabei zu sein. Wer zum „vereinten Europa“ gehören will, muss sich nicht nur über dort geltende Standards, sondern auch darüber im Klaren sein, dass davon selektiv Gebrauch gemacht wird. Was wiederum nur allzu oft zur Praxis doppelter Standards führt.

Jedenfalls könnte für Ungarn nach dem 448-zu-197-Stimmen-Votum des EU-Parlaments nun ein Rechtsstaatsverfahren fällig sein, während bei Italien noch nicht einmal darüber nachgedacht wird, ob sich für die rechtsnationale Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega wegen der Missachtung humanitärer Werte beim Umgang mit Flüchtlingen Gleiches empfiehlt. Die Statements von Innenminister Matteo Salvini zeugen nicht eben von Respekt gegenüber dem Wert des menschlichen Lebens. Doch wer Italien schwer rügt, täte das bei einem Gründungsstaat der EWG und würde Kerninventar der heutigen Union beschädigen. Welchen Stellenwert hat Ungarn?

Als Bevormundung empfunden

Ohnehin ist es problematisch, im Namen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine Regierung an den Pranger zu stellen, die nach weitgehend demokratischen Wahlen ins Amt kam, sich also auf das Mandat einer Mehrheit berufen kann. Premier Viktor Orbán sowieso, aber auch viele seiner Landsleute werden das als erzieherisches Gebaren und Bevormundung durch das EU-Parlaments empfinden.

Die zwischen West-und Osteuropa zweifellos vorhandene, teilweise erst in den vergangenen Jahren entstandenen Gräben dürften sich weiter vertiefen. Die Ergebnisse der Wahlen zum Europaparlament im Mai 2019 werden zeigen, ob daraus ein Riss geworden ist, der sich kaum mehr überwinden lässt. Die EU – derzeit von so vielen Friktionen und inneren Differenzen geschwächt – wird dadurch weiter an Zusammenhalt verlieren. Zu fragen wäre auch: Lohnt sich die jetzt erfolgte Maßregelung überhaupt, wenn Orbán politisch nahestehende Regierungen in Polen oder Tschechien – gegen eine Verurteilung im möglichen Rechtsstaatsverfahren ihr Veto einlegen. In diesem Fall bliebe das Parlamentsvotum folgenlos und wäre auf die öffentliche Wirkung des Anprangerns reduziert.

Viktor Orbán wird dadurch im eigenen Land vermutlich an Autorität und Zuspruch gewinnen. Er hat in seiner Rede vor den EU-Parlamentariern am 11. September in Strasbourg von einer gezielten Demütigung gesprochen, die Ungarn zuteil werde, weil es angesichts einer dissonanten und orientierungslosen Flüchtlingspolitik der EU einen eigenen Weg eingeschlagen habe. „Sie wollen die Widerstandskämpfer in Ungarn verurteilen“, so Orbán mit deutlich zu viel Aplomb. Ungeachtet dessen ist ihm zu bescheinigen, dass seine Politik der geschlossenen Grenzen zwar weder human noch hilfreich ist, aber für sich in Anspruch nehmen kann, auf die ökonomischen Möglichkeiten und die Stimmung in Ungarn bedacht zu sein.

Und wer rechnet nach der klaren Abstimmung im EU-Parlaments ernsthaft damit, dass Orbáns Partei FIDESZ aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) ausgeschlossen wird? Wäre das jetzt nicht angebracht? Wird das aufstiegswillige EVP-Fraktionschef Manfred Weber, der auch CSU-Politiker ist, das anstoßen und durchsetzen? Gegen den Willen und die Präferenzen seiner Partei? Die lädt bekanntlich Viktor Orbán gern zu ihren Klausurtagungen, um den flüchtlingspolitischen Konsens zu feiern.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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