Die Osteuropäer haben es so gewollt, könnte man sagen, sich zurücklehnen und darauf verweisen, dass es eine freie und souveräne Entscheidung Ungarns war, um Aufnahme in die EU zu bitten und ab 2004 dabei zu sein. Wer zum „vereinten Europa“ gehören will, muss sich nicht nur über dort geltende Standards, sondern auch darüber im Klaren sein, dass davon selektiv Gebrauch gemacht wird. Was wiederum nur allzu oft zur Praxis doppelter Standards führt.
Jedenfalls könnte für Ungarn nach dem 448-zu-197-Stimmen-Votum des EU-Parlaments nun ein Rechtsstaatsverfahren fällig sein, während bei Italien noch nicht einmal darüber nachgedacht wird, ob sich für die rechtsnationale Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega wegen der Missachtung humanitärer Werte beim Umgang mit Flüchtlingen Gleiches empfiehlt. Die Statements von Innenminister Matteo Salvini zeugen nicht eben von Respekt gegenüber dem Wert des menschlichen Lebens. Doch wer Italien schwer rügt, täte das bei einem Gründungsstaat der EWG und würde Kerninventar der heutigen Union beschädigen. Welchen Stellenwert hat Ungarn?
Als Bevormundung empfunden
Ohnehin ist es problematisch, im Namen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine Regierung an den Pranger zu stellen, die nach weitgehend demokratischen Wahlen ins Amt kam, sich also auf das Mandat einer Mehrheit berufen kann. Premier Viktor Orbán sowieso, aber auch viele seiner Landsleute werden das als erzieherisches Gebaren und Bevormundung durch das EU-Parlaments empfinden.
Die zwischen West-und Osteuropa zweifellos vorhandene, teilweise erst in den vergangenen Jahren entstandenen Gräben dürften sich weiter vertiefen. Die Ergebnisse der Wahlen zum Europaparlament im Mai 2019 werden zeigen, ob daraus ein Riss geworden ist, der sich kaum mehr überwinden lässt. Die EU – derzeit von so vielen Friktionen und inneren Differenzen geschwächt – wird dadurch weiter an Zusammenhalt verlieren. Zu fragen wäre auch: Lohnt sich die jetzt erfolgte Maßregelung überhaupt, wenn Orbán politisch nahestehende Regierungen in Polen oder Tschechien – gegen eine Verurteilung im möglichen Rechtsstaatsverfahren ihr Veto einlegen. In diesem Fall bliebe das Parlamentsvotum folgenlos und wäre auf die öffentliche Wirkung des Anprangerns reduziert.
Viktor Orbán wird dadurch im eigenen Land vermutlich an Autorität und Zuspruch gewinnen. Er hat in seiner Rede vor den EU-Parlamentariern am 11. September in Strasbourg von einer gezielten Demütigung gesprochen, die Ungarn zuteil werde, weil es angesichts einer dissonanten und orientierungslosen Flüchtlingspolitik der EU einen eigenen Weg eingeschlagen habe. „Sie wollen die Widerstandskämpfer in Ungarn verurteilen“, so Orbán mit deutlich zu viel Aplomb. Ungeachtet dessen ist ihm zu bescheinigen, dass seine Politik der geschlossenen Grenzen zwar weder human noch hilfreich ist, aber für sich in Anspruch nehmen kann, auf die ökonomischen Möglichkeiten und die Stimmung in Ungarn bedacht zu sein.
Und wer rechnet nach der klaren Abstimmung im EU-Parlaments ernsthaft damit, dass Orbáns Partei FIDESZ aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) ausgeschlossen wird? Wäre das jetzt nicht angebracht? Wird das aufstiegswillige EVP-Fraktionschef Manfred Weber, der auch CSU-Politiker ist, das anstoßen und durchsetzen? Gegen den Willen und die Präferenzen seiner Partei? Die lädt bekanntlich Viktor Orbán gern zu ihren Klausurtagungen, um den flüchtlingspolitischen Konsens zu feiern.
Kommentare 10
Lieber Herr Herden,
haben Sie irgendwann schonmal einen zitronenfalter zitronen falten sehen?
Wahrscheinlich ja, denn sonst würden Sie nicht derart naiv über die EU labern. Genauso wie der beitritt Ungrans nicht deshalb vollzogen wurde, weil das dortige politische system besonders demokratisch war, wird das land jetzt auch nicht gemassregelt; genauso wie noch nie ein EU-freihandelsabkommen wegen menschenrechtsproblemen ausgesetzt wurde (obwohl das in der regel in den verträgen so steht).
Die hehren prinzipien in den EU-verträgen sind doch längst makulatur (wenn sie denn je mehr waren). Beschäftigen Sie sich doch mal mit den realitäten; das sollte einem journalisten wie Ihnen doch nicht schwerfallen...
und Ihre Argumente wären welche ?
Was natürlich stark auffällt, ist die Tatsache, dass die "Älteren und Weiseren", sprich: die alten EU-Mitglieder, allerlei Verfehlungen den "Jungen und Unerfahrenen", sprich: den neuen EU-Mitgliedern vorwerfen. Vor paar JAhren habe ich im Interview mit einem deutschen Politiker die entwaffnende Erklärung dazu gelesen: "Unsere Demokratie ist halt reif". Hoffentlich weiß er, was das nächste Stadium nach der Reife ist...
Kleines Beispiel aus der neuesten Zeit: vor paar Wochen hatte polnische Regierung die ukrainische Staatsbürgerin mit dem Wohnsitz in Polen Ludmila Kozlovska auf die sog. Schengen-Liste gesetzt, was zu ihrer sofortigen Ausweisung aus der EU geführt hatte. Frau Kozlovska führt mit ihrem polnischen Ehemann eine Stiftung an, die sich solche Ziele setzt wie "das Land anzuhalten" und "die Regierung auszuschalten". Die Gründe für die Ausweisung lagen allerdings vielmehr in zwielichtiger Finanzierung, die u.a. durch den in der russischen Rüstungsindustrie tätigen Bruder von Frau Kozlovska erfolgt haben sollte.
Nun, so viel so gut. Solche Einträge werden gar nicht diskutiert und die betroffene Person sofort ausgewiesen. Gestern hatte sich die Frau Kozlovska auf die Einladung des Bundestages in Berlin aufgehalten mit einem speziellen Visum, das mit "nationalen Interessen" Deutschlands begründet wurde. Polen wurde u.a. vorgeworfen zu leichtsinnig mit dem Eintrag in das Schengen Information System umzugehen.
Und jetzt der Clou - die Einzahl der Einträge in SIS (Einreiseverbot), die Deutschland nur in den ersten paar Monaten nach Inkrafttreten dieses Systems vorgenommen hatte? 600 000.
Nun fällt dieser EU auf die Füsse, dass sie nach der sogenannten Wende eigentlich in erster Linie als politisch-ökonomischer Wall gegen Russland gedacht war. Gewissermaßen als politisch-ökonomischer Arm neben dem Militärischen genannt Nato. Und da konnte und wollte man aufnehmen, wer immer auch unter diesem Aspekt gesehen, hinienpasste. Die Mär von der Wertegemeinschaft glaubt ohnehin nur noch der indoktriniert-dümmliche BILD-Konsumierer. Hätte man eine Wertegemeinschaft bilden wollen, dann hätte man in die Verträge Werte verankern, die Mitgliedschaft konsequent an diese Werte binden und diese durch Sanktionen bis hin zum EU-Ausschluß sichern können. Hat man aber nicht. Das man daher die FIDESZ-Partei ausschließt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Schließlich wollen sich die Konservativen im sogenannten EU-Parlament nicht schwächen. Insofern klingt der Theaterdonner um Polen, Ungarn, Tschechien und die Slovakei im Zusammenhang mit der Weigerung Migranten nach dem Umverteilungssystem aufzunehmen, wie ein Pfeiffen im Walde.
<<Lohnt sich die jetzt erfolgte Maßregelung überhaupt, wenn Orbán politisch nahestehende Regierungen in Polen oder Tschechien – gegen eine Verurteilung im möglichen Rechtsstaatsverfahren ihr Veto einlegen. In diesem Fall bliebe das Parlamentsvotum folgenlos und wäre auf die öffentliche Wirkung des Anprangerns reduziert.>>
Nein, das lohnt sich natürlich nicht. Bill Clinton würde dazu einfallen: It's the economy stupid!
Die osteuropäischen Staaten mit autoritären bis despotischen Neigungen haben ja alle noch ihre eigenen Währungen und gehören nicht zum Club der Euro-Länder. Der Umgang der USA mit der Türkei demonstriert gerade, wie man Möchtegern-Despoten wie Erdogan schnell klein kriegt, wenn man den Außenwert ihrer lokalen Währung in den Keller rauschen lässt. Das könnte Ungarn, Polen, Rumänien, Bulgarien und der Tschechischen Republik vielleicht auch passieren.
Draghi, übernehmen Sie!
Politische Gefügigkeit mittels ökonomischer Erpressung? Interessant - sagt wahrlich viel über die Vorstellung von demokratischen Prozessen.
Da sich die genannten Herren um demokratische Prozesse nicht scheren, ist das wohl die einzige Antwort, die sie verstehen werden und die auch tatsächlich wirkt.
Eine weitere Wirkung wird sicher sein, dass die korrupte Entourage dieser Herren ihr zusammengerafftes Vermögen in Form stabiler Devisen ins Ausland schaffen wird, wo wir es dann evtl. abschöpfen und ihren Völkern zurückgeben könnten (falls "wir" ein Fan demokratischer Prozesse sind).
"demokratische Prozesse"? Was ist das? Sie wurden in freien und demokratischen Wahlen gewählt und stellen sich regelmäßig zu solchen. Dass sie keine Migranten wollen oder "NGOs", die mehr oder weniger offen aus dem Ausland finanziert werden und in bestimmte politische Richtung arbeiten, ist wohl deren gutes Recht.
Zu der Verlogenheit der Debatte nur ein Beispiel - ich kann mich noch entsinnen als vor 25-30 Jahren jede staatliche Fragmentierung im Osten Europas als "Selbstbestimmungrecht der Völker" beklatscht und teilweise aktiv unterstützt wurde. Und jetzt? Die Polizei des Halbfaschisten Rajoy verletzt 460 Demonstranten in Barcelona, die für das Gleiche demonstrieren - und Europa?
Ich bin kein Freund von Maaßen, aber es ist schon bezeichnend für den Zustand der hiesigen Demokratie, wie schnell nach dessen Absetzung gerufen wird (oder Seehofers), weil er es gewagt hatte, der Bundeskanzlerin zu widersprechen.
Sie haben da was falsch verstanden. Die EU hat die Verfahren gegen Ungarn und Polen nicht eingeleitet wegen deren Weigerung, Migranten aufzunehmen (obwohl das ein Akt mangelnder Solidarität mit den anderen EU Staaten ist, aber leider nicht justiziabel). Vielmehr geht es darum, dass die demokratisch gewählte Mehrheitsregierung ihre für wenige Jahre verliehene Machtposition dazu missbraucht, Gerichte gleichzuschalten, die Presse mundtot zu machen, ihre eigenen Führungsfiguren und deren Familien zu bereichern und die Opposition so zu drangsalieren, dass sie auf absehbare Zeit keine Chance mehr hat, mit einigem Erfolg an Wahlen teilzunehmen.
Das alles kenne ich zur Genüge aus Südkorea. Dort gab es von 1961 bis 1988 eine Militärdiktatur, die sich durch "Wahlen" regelmäßig bestätigen ließ. Wer aber bei den Wahlen gegen die Generäle antreten wollte, wurde vom Geheimdienst gekidnapped und wegen "Zusammenarbeit mit Nordkorea" vor Gericht gestellt und mit der Todesstrafe bedroht. Diese Zusammenarbeit wurde aus der Tatsache abgeleitet, dass sich die jeweilige Person gegen die Politik der Generäle geäußert hatte.
Der "Halbfaschist Rajoy" wurde alsbald nach seiner törichten Tat in Katalonien vom spanischen Parlament abgesetzt und durch den Sozialisten Pedro Sanchez ersetzt. Demokratie funktioniert also doch, die handelnden Politiker müssen es nur wollen.
Herr Maassen muss nicht abgesetzt werden, weil er Frau Merkel widersprochen hat, sondern weil er sich als weisungsgebundener Spitzenbeamter zu einem Ereignis öffentlich geäußert hat ohne seine Behauptungen durch Fakten untermauern zu können. Offensichtlich hat er seine "Erkenntnisse" vorher auch nicht Frau Merkel mitgeteilt. Vermutlich war der Zweck seines Auftritts, weiter Zwietracht in der GroKo zu säen ohne dass man Herrn Seehofer dafür haftbar machen kann.
"Gerichte gleichzuschalten, die Presse mundtot zu machen, ihre eigenen Führungsfiguren und deren Familien zu bereichern und die Opposition so zu drangsalieren, dass sie auf absehbare Zeit keine Chance mehr hat, mit einigem Erfolg an Wahlen teilzunehmen."
Nun, Gerichte werden nicht gleichgeschaltet sondern reformiert. Was die Modalitäten der Wahl der Richter hierzulande (Parteienproporz, Parteiennominierung) - kann sich jeder ein Bild machen.
Presse "mundtot" zu machen? In Polen sind 3 von 4 auflagestärksten Zeitungen/Zeitschriften von den deutschen Verlagen und der Anteil der deutschen Verlage beträgt bei der Lokalpresse 90%. Ausländische Fernsehstationen (z.B. tvn) haben einen Anteil von etwa 50%). BTW, wie ist denn der Anteil des Fremdkapitals an den Medien in Deutschland. Was die Unabhängigkeit der Medien von der Politik betrifft - Sie erinnern sich noch an Causa Bender?
Der Vergleich mit Südkorea ist einfach nur absurd und zeigt, dass Sie nicht viel Ahnung haben. Südkorea lebte unter den besonderen Bedingungen des kalten Krieges und Park wurde dahingehend von den USA unterstützt. Wenn Sie damit meinen, dass sich jemand mit halblegalen Methoden lange Regierungszeit sichert - wir haben seit 70 Jahren nur 2 Parteien, die den Kanzler stellen und 3 Kanzler kommen alleine auf 45 Kanzlerjahre - das doppelte von der höchstmöglichen Amtszeit der US-Präsidenten.
Die ehemaligen BN-Chefs haben sich öfters zu politischen Ereignissen geäußert und Maaßen hatte wohl die Echtheit des Videos angezweifelt. Also es bleibt im Raum eher, ob die Aussage sozusagen d'accord mit der parteipolitischen/regierungspolitischen Richtung ist.