Schock und Seelenmassage

Großbritannien Es ist ein historischer Morgen. Beim EU-Referendum hat sich eine Mehrheit für den Brexit entschieden – mit unabsehbaren Folgen für Europa
Die Briten gehen raus
Die Briten gehen raus

Foto: PAUL FAITH/AFP/Getty Images

Es war eine dramatische Nacht, gegen 3.30 Uhr noch lag das Remain-Lager vorn, in Glasgow votierten gut 62 Prozent für die EU, im Londoner Finanzdistrikt waren es knapp 75 Prozent, gegen 4.00 Uhr stand das Ergebnis für Liverpool fest, wo ebenfalls 60 Prozent meinten, sie wollten in der EU bleiben. Dann aber ging es Schlag auf Schlag, als immer mehr ländliche Wahlkreise in Süd- und Mittelengland ausgezählt waren, jeweils mit einem mehr oder weniger klaren Zuschlag für das Brexit-Lager. Bald schon sorgten Sunderland, Southampton und Birmingham, die zweitgrößte Stadt des Landes, für einen Vorsprung, der gegen sechs Uhr bei einer Million Stimmen pro Brexit lag, und zu einem vorübergehenden 52 zu 48 für die Abschiedswilligen führte. Danach verfestigte sich jener Trend, bis gegen 7.00 Uhr feststand, knapp 52 Prozent haben für den Brexit votiert.

Keine Frage, die Autorität von Premier David Cameron liegt in Trümmern, sein Rücktritt ist unausweichlich und bereits erklärt. Viele Briten haben dieses Refenrednum wohl genutzt, um ihre Abstimmung bei der Unterhauswahl vom 7. Mai 2015 zu korrigieren und den regierenden Tories eine Abfuhr zu erteilen.

Es ist Cameron und seinem politische Vabanque-Spiel auch anzulasten, wenn das britische Pfund auf einen Wert von 1,34 gegenüber dem Dollar und damit den niedrigsten Stand seit 1985 gefallen ist. Turbulenzen auf den Finanzmärkten sind absehbar, Kursabstürze an den Börsen finden bereits statt.

Was ist geschehen?

Es hat an diesem 23. Juni 2016 kein jüngstes Gericht sein Urteil gesprochen – es haben Bürger eine Entscheidung getroffen, die dieser EU offenbar nichts mehr abgewinnen konnten, trotz aller ökonomischen Risiken, die ein solches Votum gewiss heraufbeschwört. Es muss noch nicht völlig unwiderruflich sein, was sich am Tag danach abzeichnet – nicht für die Briten und schon gar nicht für die Idee eines europäischen Staatenbundes, der den Interessen seiner Mitgliedsstaaten gerecht wird, weil die durch ein vereintes Europa ihr Interessen am besten gewahrt sehen.

Zurück zur Vergangenheit

Nur leider existiert eine Politische Union dieser Qualität und dieses Miteinanders nicht. Spätestens seit Ausbruch der „Eurokrise“ 2010/11 fehlen mehr denn je das supranationale Motiv und der Wille zu Solidarität, zu Zusammenhalt und – gegebenenfalls – Souveränitätsverzicht. Sie wird als Projekt oder gar Vision noch irrealer nach diesem Paukenschlag, wenn Großbritannien ausschert.

Ohne künstlich dramatisieren zu wollen – es spricht nun vieles dafür, dass Europas Zukunft wieder mehr seine Vergangenheit sein wird. Längst häufen sich außenpolitische Verhaltensweisen und Denkmuster, die dem 19. Jahrhundert eher verwandt scheinen als einem kosmopolitisch geprägten 21. Jahrhundert. Viele Briten, die nach ihrer Abstimmung erklärt haben, sie wollten nicht länger an den Kontinent gefesselt sein, sondern sich zur Identität einer See- und atlantischen Macht bekennen, sind bei allem Respekt vor ihrer patriotischen Passion einer Retro-Obsession verfallen, die wenig zeitgemäß wirkt, aber dem Zeitgeist gehorcht.

Der aktuelle Zustand Europas ist der beste Beweis dafür, dass wir in keinem "posthistorischen" Zeitalter leben. Und die Geschichte mitnichten ein toter Hund von musealer Sterilität ist, sondern ein höchst lebendiger Organismus, der Geistern gehorcht, die für tot zu erklären längst wie ein frommer Wunsch klingt. Alles ist wieder verfügbar, was das geschichtliche Universum in seiner Totalität vorzuweisen hat: der nationalistische Furor, der kulturelle Hochmut, der Glaube an eine nationale Stärke, die vom Militärischen kommt, der Streit um Grenzen, um Minderheiten, um Separatismen, um Dominanz bis hin zur Hegemonie.

Vorlage für Le Pen

Sicher, es wird gut zwei Jahre dauern, bis der britische Exit ausgehandelt ist, aber je mehr Großbritannien ökonomisch darunter leidet, um so mehr wird das Ressentiments schüren. Die Hinwendung zu mehr nationaler Identität ist Emotionen und starken Wandlungen unterworfen – sie kann auch zum Bollwerk oder Rammbock werden.

Dabei wird die sich andeutende Lage der EU prekärer sein als im Frühsommer 2005. Seinerzeit ließen die Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden einen Europäischen Verfassungsvertrag scheitern. Die Staatenunion war zwar angeschlagen, aber nicht bis ins Mark erschüttert. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde 2007 für Abhilfe gesorgt, er war in seiner ideologischen Grundtönung noch neoliberaler als die geplante Verfassung – auf jeden Fall konnte sich die EU wieder fangen und in trügerischer Sicherheit wiegen.

Das ist heute anders. Haben die Briten nicht mit dem Rückbau Europas begonnen? Jetzt schon gibt es auch in anderen Ländern Forderungen, es mögen dort genauso über Status oder Mitgliedschaft in der EU entschieden werden wie im Vereinigten Königreich. Marine Le Pen kann sich für den in sieben bis acht Monaten beginnenden Wahlkampf um die nächste französische Präsidentschaft keine bessere Vorlage wünschen. Sie braucht dazu noch nicht einmal eine konzertierte Aktion mit anderen rechtsradikalen oder -nationalistischen Parteien in der Nachbarschaft. Sie kann ihr Land zum Präzedenzfall dafür erklären, wie wirtschaftliche Entkräftung und fehlende Zukunftsgewissheit den Zwängen der EU-Mitgliedschaft – der Fremdbestimmung – geschuldet sind. Sie wird schwerlich erwähnen, dass es kaum einen EU- bzw. Euro-Staat gibt, der durch die Brüsseler Kommission derart mit Samthandschuhen angefasst wird und allein bei der Neuverschuldung auf Konzessionen rechnen darf.

Wenn die FN-Vorsitzende mit der Pro-Brexit-Votum im Rücken groß auftrumpft, ist das vermutlich auch eine Kostprobe dessen, was die EU-Kritiker und -Verächter in Deutschland, besondern die in der AfD, mit dieser Abstimmung und Stimmung anfangen werden. Wer weiß, ob ein im nächsten Jahr um diese Zeit schon voll entbrannter Bundestagswahlkampf nicht von einem ähnlichen Pro und Contra überlagert wird, wie das Großbritannien vor dem 23. Juni polarisiert hat.

Pro-Brexit-Fanatiker wie der Ukip-Chef Nigel Farage haben sich nie groß bei Argumenten über wirtschaftliche Konsequenzen aufgehalten, sondern kannten nur eine Devise: „die Kontrolle zurückgewinnen“, zuallererst bei der Einwanderung – „Wir wollen unser Land zurückhaben!“ Dieser Semantik haftet ein universeller politischer Gebrauchswert an, solange es innerhalb der EU keine Anzeichen dafür gibt, dass eine kollektive Anstrengung die Flüchtlingsfrage lösen hilft.

Nicht zu verteidigen

Erst vor einer Woche gab es in Wien unter der Schirmherrschaft von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache ein Treffen „patriotischer Parteien“ Europas – darunter die AfD, der Vlaams Blok aus Belgien, die Lega Nord aus Italien, der Front National (FN) sowie rechtsnationalistische Gruppierungen aus der Slowakei, aus Rumänien und Tschechien, die sich darüber einig waren: Es gibt ein Leben nach der Europäischen Union. Folglich habe man das Recht, Referenden über einen Austritt aus der EU im eigenen Land durchzusetzen.

Hier dürfte das britische Paradigma eine verheerend virulente Wirkung entfalten. Was die Frage aufwirft, wie kann das vereinte Europa verteidigt werden, wenn es doch so viel gibt, was sich an seinem jetzigen Dasein, seiner Demokratieferne und seinen neoliberalen Dogmen einfach nicht verteidigen lässt?

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