Es scheint angebracht, sich einer Prophezeiung zu erinnern, wie sie der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger im Februar 2013 verbreitet hat: Ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin „würden mit dem Kollegen aus Paris nach Ankara robben, um die Türkei zu bitten – Freunde kommt zu uns“. Seinerzeit konnte man freilich nicht ahnen und erst recht nicht wissen, wie sehr Staatschef Erdoğan seinem Amt in den kommenden Jahren eine nationalistische und despotische Aura geben würde. Andererseits war die geostrategische Exklusivität seines Landes stets über jeden Zweifel erhaben. Die Türkei verbindet als Landbrücke zwei Kontinente. Sie führt hinein in eine Region, zu der Syrien, der Irak, Iran, der Libanon, Jordanien und Israel ge
Israel gehören – Staaten, die zum Teil in Kriege und in nicht nur einen Konflikt verwickelt sind. Es kommt hinzu, dass eine Nachkriegsordnung in Syrien auf die Türkei als mögliche Garantiemacht angewiesen sein könnte. Ankara wird an einem solchen Mandat schon deshalb gelegen sein, weil die syrische mit der kurdischen Frage verschränkt ist. Eine kurdische Autonomie im Norden des Bürgerkriegslandes wäre aus türkischer Sicht noch weniger hinnehmbar als die in Irakisch-Kurdistan. Unabhängig davon wird Russland Wert darauf legen, Ankara angesichts der Friktionen mit den westlichen Partnern im syrischen Spiel zu halten. Moskau setzt auf den Effekt, so den Einfluss des Westens, besonders der USA, auf den Konfliktraum in Grenzen zu halten. Zwar hat sich Erdoğans Vision vom Aufpumpen eigener Regionalmacht durch eine religiös verwandte, sunnitische Regierungsfiliale in Damaskus, die nichts mehr mit Baschar al-Assad und dem Baath-Regime zu tun hat, als zu ambitioniert erwiesen. Erledigt hat sich die Projektion hingegen kaum. Der Kontext, der hier nur ansatzweise beschrieben ist, hat es verdient berücksichtigt zu werden, wenn die Türkei ihren EU-Kandidatenstatus endgültig einbüßen soll. In der finalen Phase des Wahlkampfes haben nun sowohl Kanzlerin Merkel als auch Herausforderer Schulz zu verstehen gegeben, die lange schon stagnierenden Beitrittsverhandlungen kappen zu wollen. Sie mussten allerdings einräumen, dazu auf einen Konsens innerhalb bzw. des Europäischen Rates angewiesen zu sein. Und der ist weder gesetzt noch selbstverständlich. Macron auf DistanzBeim derzeitigen Treffen der EU-Außen- und Verteidigungsminister im estnischen Tallinn ist die Türkei offiziell kein Thema. Auf informeller Ebene wird das indes schwerlich zu umgehen sein, wenn sich Führungspersonal aus der stärksten EU-Macht so positioniert hat, wie das seit dem sogenannten Fernsehduell vom 3. September der Fall ist. Es gibt durchaus EU-Mitglieder wie Griechenland, die eine stärker an Europa gebundenen Türkei gutheißen, weil sie hoffen, dadurch von den Konflikten mit dem ewigen Rivalen entlastet zu werden. Frankreich hat noch unter dem sozialistischen Präsidenten Hollande darauf gedrängt, neue Beitrittskapitel zu eröffnen. Nachfolger Macron hat sich inzwischen von Angela Merkels neuem Rigorismus distanziert. Es dürfe zu keiner Spaltung mit der Türkei kommen, so der Präsident: „Einen Bruch will ich vermeiden, weil das Land ein lebenswichtiger Partner in vielen Krisen ist, die uns betreffen – besonders in der Frage der Einwanderung und der Terrorbekämpfung“. Bekannt ist, dass Paris für Syrien eine neue internationale Kontaktgruppe installieren will, in der man sich einen türkischen Part durchaus vorstellen kann. Was mit den Intentionen Wladimir Putins kompatibel wäre. Im Gespräch mit dem Wochenblatt Le Point meinte Macron kürzlich, die Weltbühne sei derzeit „wenig cool“ und ergänzte, er sei doch derjenige, „der alle zehn Tage mit Erdoğan reden“ müsse. Und auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hält einen vollkommenen Abbruch der Beitrittsgespräche für unangemessen. Es ist nun einmal einer der Kollateralschäden westlicher Weltordnungspolitik, dass die Macht autoritärer Regime eher zu- als abgenommen hat. Iran, Ägypten, Saudi-Arabien, die meisten Golfstaaten und die Türkei wären zu nennen. Was folgt daraus? Für Emmanuel Macron ist das die Intention, „dass wir zu reden verstehen und zwar mit allen! Wir dürfen den Dialog niemals abbrechen lassen, um dabei immer auch unsere Interessen zu verteidigen – und unsere Werte.“Alternative PartnerUnd dann wäre da noch die NATO. Wozu Ankara aus der EU-Warteschleife werfen, die Mitgliedschaft in der westlichen Militärallianz jedoch unangetastet lassen? Die von der jetzigen Führung in Ankara ausgehende Willkür, der Bruch mit rechtsstaatlichen Normen, der Hang zur Autokratie, die Verunglimpfung von politischer Opposition als subversiv und terroristisch sind keine Empfehlung für den Wertekanon, dem sich das Bündnis verschrieben hat. Auch wenn man weiß, wie viel davon Staffage und Irreführung ist. Der NATO-Status der Türkei steht natürlich wegen der geostrategischen Exklusivität – man kann auch sagen Unverzichtbarkeit – nicht zur Disposition. Schließlich könnte Präsident Erdoğan sehr viel mehr, als sich das bereits andeutet, zum Abtrünnigen werden und nach alternativen Allianzen Ausschau halten. Mit Russland sind Agreements über Waffenstillstandszonen in Syrien seit längerem vereinbart. Politiker der Regierungspartei AKP halten eine Hinwendung zur Shanghai Cooperation Organisation (SOC) für attraktiv, die Russland und China mit asiatischen Wachstumsstaaten vereint. Außenminister Mevlüt Cavusoglu zeigt sich interessiert am chinesischen Megaprojekt einer neuen Seidenstraße, einem Welthandelsnetz, das so beschaffen sein soll, den Protektionismus der USA auffangen zu können. Dass sich Erdoğan auf Moskau und Peking zubewegt, wird Angela Merkel nicht wollen. Ihr Begriff von kausaler Dialektik folgt der Vorstellung: Was Russland nutzt, das schadet uns und unterläuft Strafmaßnahmen der EU, die Sanktionen zum Beispiel. Man denke an den Streit über Ex-Kanzler Gerhard Schröder und seine Vorfreude auf ein Mandat als Rosneft-Manager.