Beim medialen Echo in Deutschland auf die U-Bahn-Attentate von Moskau schwingt unterschwellig eine Erwartung mit. Zuweilen klingt sie wie eine Hoffnung. Der Terror werde das Ende des Reformers Dmitri Medwedjew einläuten. Der müsse nun handeln und dürfte sich dadurch ähnlicher werden, als ihm lieb sei. Der lange als Modernisierer kostümierte Autokrat stehe vor dem Offenbarungseid. Ein Russland-Bild – besonders das im Westen gewohnte – wurde lange genug retuschiert.
Ungerührt wird die Amtsführung eines russischen Präsidenten nach einer nationalen Katastrophe zum Bewährungsfall erklärt. Die Test-Frage der Jury lautet: Will Medwedjew wirklich die russischen Politik zivilisieren, die Bürgergesellschaft hofieren, die Allmacht des Sicherheitsapparates brechen? Dann muss er das beweisen! Und zwar jetzt. Bei der Suche nach den Tätern, der Abwehr neuer Anschläge, beim Vorgehen im Nordkaukasus, wo die Quellen des Terrors sprudeln.
In allen Staaten der Welt darf nach einem solchen Attentat die Stunde der Exekutive schlagen. Nicht so in Russland. Dort haben Reformer zu beweisen, Reformer zu sein. Wenn Premier Putin tönt, es werde eine Ehre für die Sicherheitskräfte sein, die Komplizen der Attentäter „vom Boden der Kanalisation zu kratzen und ans Tageslicht zu zerren“, sollte Medwedjew ihn dann zur Ordnung rufen? Er wäre als Präsident schnell erledigt.
Wer sonst sollte für die Sicherheit der Bürger Verantwortung übernehmen als der russische Sicherheitsapparat – Miliz, Armee, Geheimdienste, deren Effizienz augenscheinlich zu wünschen übrig lässt. Der Erneuerer, Reformer, Modernisierer Medwedjew ist in dieser Hinsicht gefragter denn je. Er muss den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung höchste Priorität einräumen und Erklärungen abgeben, die nicht nur nach Entschlossenheit klingen, sondern entschlossenes Handeln signalisieren. Im Westen sind nach dem 11. September 2001 ganze Staaten zu Hochsicherheitstrakten umgebaut worden. Nicht so in Russland. Dort wurden bereits vor 9/11 im Kaukasus Kriege gegen den Terror geführt, um nach dem Zerfall der Sowjetunion territoriale Integrität nicht vollends aufzugeben. Die Realitäten einer islamistisch gefärbten Separation in Tschetschenien, Dagestan oder Inguschetien haben Moskau von Anfang nicht verschont. Und werden das auch in Zukunft kaum tun.
Härte gilt nun einmal als Raison d`être, wenn Staaten zu erodieren drohen. In Spanien (Baskenland) und Frankreich (Korsika) ebenso wie in Indien (Kaschmir) oder im Sudan (Darfur). Auskünfte über die Qualität des jeweiligen politischen Systems sind in diesem Fall mit Vorsicht zu genießen. Und was bitteschön ist über den Reformwillen eines russischen Präsidenten gesagt, wenn er seinen Amtseid erfüllt und eine Kampfansage an die von Menschenrechtlern im Westen gern verklärte kaukasische Terror-Szene formuliert? Etwas ganz anders ist die Frage, wie und ob sich die Reform- und Modernisierungsversprechen Medwedjews einlösen lassen, wenn – krisen- und systembedingt – die sozialen Verwerfungen in der russischen Gesellschaft krasser werden. Diese Frage hätte sich auch gestellt, wenn der 29. März 2010 für die russische Kapitale ein ganz normaler Montag gewesen wäre.
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