Als Mao Zedong am 1. Oktober 1949 auf dem Pekinger Tiananmen-Platz die „Zentrale Volksrepublik China“ ausruft, befinden sich längst nicht alle Regionen des Landes unter Kontrolle seiner Regierung. Zwar sind die entscheidenden Schlachten gegen die Guomindang-Armee des Generals Chiang Kai-shek geschlagen, aber die Provinz Guangdong in Süden und die Insel Xiamen noch nicht erobert. Nachvollziehbar, dass sich Maos Staat als „revolutionär-demokratische Diktatur“ der Arbeiter und Bauern begreift. Man kann sich schließlich seiner Feinde sicher sein. Erst Anfang 1950 befindet sich das gesamte Land unter Kontrolle der neuen Machthaber. Chiang Kai-shek hat sich mit seinen Anhängern nach Taiwan zurückgezogen, um dort die Republik China zu führen und sie der Volksrepublik auf dem Festland entgegenzustellen.
Terror und Not
Es beginnt ein Umpflügen der gesellschaftlichen Verhältnisse, das Mao-Biograph und China-Kenner Edgar Snow (1905-1972) bereits Mitte der 1930er Jahre erwartet und schreibt: Der Dichter Lu Hsun, den er in Peking traf, habe ihm zu verstehen gegeben, für China könne es nur eine Art von Revolution geben – „eine chinesische Revolution, denn auch wir haben unsere Geschichte, aus der wir lernen müssen“. Was wohl bedeuten sollte, es wird sich um einen eigenständigen Weg handeln, den die Revolution einschlägt, unterscheidbar vom „sowjetischen Modell“.
In den ersten 30 Jahren der Volksrepublik fehlt es mit dem Umbruch nicht an Irrwegen, denkt man an den von Mao Zedong 1958 ausgerufenen „Großen Sprung nach vorn" oder die „Große Proletarische Kulturrevolution“, die heute als eine Zeit der inneren Repressionen und ideologischen Hybris, auch des Terrors und der Not, erinnert wird.
Die entscheidende, bis heute nachwirkende Zäsur ergibt sich Ende der 1970er Jahre mit dem Übergang zu einer Politik der wirtschaftlichen Reformen, die China geradezu elektrisieren und das Vorspiels eines Aufstieg sind, der weltweit seinesgleichen sucht.
Mentor der Reformpolitik ist Deng Xiaoping, seinerzeit Vizepremier, aber bald schon Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der KP, der 1985 auch als Buchautor in Erscheinung tritt. Seit 1. Januar 1985 kann überall in China sein Abriss Der Aufbau des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen erworben werden, gewidmet der Reformagenda, wie sie im Dezember 1978 das Zentralkomitee des XI. KP-Parteitages auf Dengs Empfehlung hin beschlossen hat, um das Land aus bleierner Stagnation und maoistischer Versuchung zu reißen.
Eiserne Reisschüssel tabu
Worauf der Verfasser schon im Vorwort Wert legt, das ist die Gewissheit, China werde bis zum Ende des Jahrhunderts sein Gesellschaftliches Gesamtprodukt (nach westlicher Terminologie: Bruttosozialprodukt) vervierfachen und danach pro Jahr stets mehr als 1.000 Milliarden Dollar erwirtschaften. „Haben wir dies erreicht“ (es wird bis heute erreicht – LH), schreibt Deng, „wird China mehr Stabilität vorweisen und über wirkliche Macht verfügen, die ihm international Einfluss gewährt.“ Worauf er sich berufen kann, ist beeindruckend – von 1978 bis 1985 sei die Kohleförderung von 40 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung auf 4.000 gestiegen, bei Stahl von 50 auf 700 Kilogramm, bei Getreide von 310 auf 1.200, Elektroenergie werden pro Kopf 5.603 Kilowattstunden erzeugt, statt 324 Kilowatt sieben Jahre zuvor.
Galten 1958 eine Uhr, ein Fahrrad, Radio und Nähmaschine als die „Vier Großen Errungenschaften“ einer chinesischen Familie, wird die formelhafte Metaphorik Mitte der 1980er erneut bemüht. Nun firmieren ein Kassettenrecorder, ein Fernsehgerät, Waschmaschine und Kühlschrank als die „Vier Großen Anschaffungen“ des Reformzeitalters. Maos „Eiserne Reisschüssel“, aus der alle und alle das Gleiche essen sollten, wird nicht mehr gebraucht und als groteskes Relikt belächelt.
Fortan sitzen die kleinen Löffel zu Tisch, wenn die großen ausgesorgt haben. Statt – seid alle gleich – heißt nunmehr die Devise: Werdet alle reich! Der Wachstumsschub des begonnenen Reformzeitalters soll dazu dienen, das 1949 gegebene Wohlstandsversprechen unwiderruflich und für alle einzulösen – wenn auch in unterschiedlichem Maße. Wie das geschieht, lässt sich allein daran ermessen, dass nach 1978 in China nie wieder irgendwo Hungerkatastrophen ausbrechen wie Ende der 1950er Jahre, als der „Große Sprung nach vorn“ im Sturzflug endet, oder 1965/66, als die „Große Proletarische Kulturrevolution“ ein ökonomisches Desaster heraufbeschwört, das besonders die seit jeher unterentwickelten und darbenden Westprovinzen Chinas in Mitleidenschaft zieht. Noch 1978 leben knapp zwei Drittel der Bevölkerung unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums, das laut UN-Agrar- und Ernährungsorganisation FAO unerlässlich ist, um bei „sparsamem Wirtschaften am sozialen Leben“ teilhaben zu können.
Fraglos ein Wirtschaftswunder
Als Deng Xiaoping 1985 sein Buch vorlegt, hat er zuvor in einer Rede erklärt, man müsse das Wachstum der Bevölkerung beschränken, bis zum Jahr 2000 sollten nicht mehr als 1,25 Milliarden Menschen in der Volksrepublik leben. Selbst wenn diese Marke nicht überschritten werde, könne man jeden nur mit sechs Quadratmetern Wohnraum und maximal 400 Kilogramm Reis versorgen. Das bedeute, die Bauleistung landesweit um 1,2 Milliarden Quadratmeter Wohnfläche zu steigern und etwa 80 Millionen Tonnen Reis mehr zu ernten (zum Vergleich: Damals liegt die Jahresproduktion des Selbstversorgers Vietnams bei 55 bis 60 Millionen Tonnen).
Inzwischen ist nach Angaben von 2018 Chinas Bevölkerung auf fast 1,4 Milliarden Menschen gewachsen, ohne dass wie in den 1950er und 1960er Jahren ganze Regionen dem sozialen Notstand verfielen.
Eine Gesellschaft, wie die chinesische, die sich nach wie vor als traditionsbewusst und sozialistisch versteht, lebt gewiss nicht von einer prosperierender Ökonomie und Wohlstand allein, auch wenn sie darauf um den Preis ihrer jetzigen Existenz und ihres weltpolitischen Status' nicht mehr verzichten kann. Der Aufstieg der vergangenen drei Jahrzehnte, der zur Ebenbürtigkeit mit den USA geführt hat, basiert fraglos auf dem größten Wirtschaftswunder des 20. Jahrhunderts.
Egal, wie man dazu stehen und dieses Phänomen bewerten mag, es spiegelt sich darin keine Laune der Geschichte, sondern das Werk von Menschen, nicht zuletzt einer Politik, die – nachdem der Maoismus objektiv abdanken musste – ein weit unterhalb seiner Möglichkeiten bleibendes Gemeinwesen aus dem toten Winkel der Stagnation holte, um nicht zu sagen: befreite. Bedauerlicherweise fehlt bis heute in Deutschland eine Gegenöffentlichkeit, die soviel Mut, Urteilskraft und Unvoreingenommenheit aufbringt, um Chinas Geschichte seit 1949 Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den 70. Jahrestag der Volksrepublik zu würdigen.
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