Sehnsucht nach dem Kalifat

Afghanistan Im Norden steht eine Widerstandsfront aus Taliban, der Partei Hezb-e Islami und usbekischen Jihadisten, die zum Muster einer Gesellschaft der Kriegserben werden könnte

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass sich die Guerilla im Norden mit dem Widerstand im Süden und Osten messen will, dann wird der am 8. Oktober 2010 erbracht. An diesem Tag stirbt Egineer Mohammad Omar, Provinzgouverneur von Kunduz, durch einen Sprengsatz, der während des Freitagsgebets in der Stadt Talokan (in Omars Heimatprovinz Takhar) gezündet wird. Der Anschlag trifft nicht irgendwen. Kein regionaler Regent in Nordafghanistan hat sich länger gehalten. Keiner war so umstritten, so auf Kooperation mit der Besatzung, in diesem Fall vorrangig der Bundeswehr, bedacht und doch so autonom in seinen Entschlüssen wie der zum Zeitpunkt seines Todes 55-jährige Paschtune. Das Attentat bezeugt, was seit 2006 unaufhaltsam ist – die Nordprovinzen Kunduz, Baghlan, Balkh und Takhar verlieren an innerer Balance. Aus der vermeintlich befriedeten Region wird ein Kap der Unruhe. Als Urheber des Anschlags gibt sich zunächst niemand zu erkennen. Es kommen neben den Taliban auch die Islamische Partei (Hezb-e Islami) des einstigen Premiers Gulbuddin Hekmatyar (1993 bis 1996 mit Unterbrechungen im Amt) und die jihadistischen Partisanen der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) in Betracht.

Sie alle wurden schwer zur Ader gelassen, als Ende 2001 unter dem Schutz der US-Intervention die Nordallianz triumphierte und nach der Bonner Petersberg-Konferenz zum Partner der Karzai-Regierung aufstieg. Zur traumatischen Erfahrung für die Gotteskrieger des Mullah Omar gerieten die sadistischen Exzesse, denen sie nach ihrer Niederlage in Kunduz zum Opfer fielen. Als es kein Pardon gab, Gefangene in Container gepfercht und zu Exekutionsplätzen chauffiert wurden, in deren Unterständen die Milizen des usbekischen Warlords Rashid Dostum schon warteten.

Wieder mit Hekmatyar

Auch wenn der Eindruck zu grobkörnig ausfallen mag, spricht doch einiges dafür, dass im Norden Afghanistans heute Kombattanten auferstanden sind, die 2001 ausgelöscht schienen. Wie die einst an den Stiefeln der Amerikaner klebende Nordallianz zerfiel, konnten deren Gegner wieder Fuß fassen, Netzwerke knüpfen, Personal rekrutieren und Infanterie-Qualitäten ausbilden. Neben den Taliban gilt das für die Milizen der Hezb-e Islami wie die Sturmtrupps der aufständischen Usbeken.

Allerdings fehlt den Taliban im Norden vielfach das Hinterland einer paschtunischen Mehrheit. Usbeken und Tadschiken bremsen ihren Expansionsdrang. Und ein Nachkriegskonzept, das dem kaleidoskopartigen ethnischen Zuschnitt der Provinzen Kunduz, Takhar und Baghlan gerecht würde, haben sie bisher nicht präsentiert, stattdessen einen stupiden Ehrgeiz zur Hand: Dort anzuschließen, wo man 2001 aufhören musste. Getrieben von der Sehnsucht nach dem Kalifat, zelebrieren die Gottgesandten ihre Rückkehr mit dem Aufbau von Parallelstrukturen von der Verwaltung bis zur Rechtsprechung. Was immer auch dieser Luxus an operativen Ressourcen kostet, die Taliban betreiben ihn vermutlich auch deshalb, weil bei aller temporären Nähe zu Gulbuddin Hekmatyar mehr als ein Rest von Rivalität erhalten bleibt.

Dessen Hezb-e Islami gilt ein Kalifat als wenig erstrebenswert, verglichen mit einem modernen islamischen Staat, der keine Anleihen bei der Islamischen Republik Iran zu nehmen verspricht, auch wenn Hekmatyars dortiges Exil (1997 - 2002) Spuren hinterlassen hat.

Ein Burgfrieden für Afghanistan kann unmöglich an diesem Warlord vorbei besiegelt werden. Seine Anhänger – oft ehemalige Kader der Hezb-e Islami – haben in den Institutionen der Karzai-Administration überwintert. Sie sind dort etabliert, wohin sie ein Hekmatyar nicht mehr lotsen muss. Ihr gemäßigter, staatstragender Islam beschreibt eine gesellschaftliche Identität, die einer Wiedergeburt des Taliban-Kalifats die Gewissheit nimmt.

Jenseits der Basen

Je länger der nordafghanische Widerstand im Zweckbündnis verharrt, desto mehr wertet das die Region politisch auf. Schon einmal – nach dem Attentat auf den Warlord Ahmad Shah Massoud im September 2001 in Takhar – fielen im Raum Mazar-i- Sharif Vorentscheidungen für einen Machtwechsel in Kabul. Davon kann im Augenblick noch keine Rede sein, doch bleibt die deutsche Militärpräsenz vom Aufwind der Aufrührer nicht unberührt.

Seit die Bundeswehr auf die Offensivstrategie der US-Truppen eingeschwenkt ist, lebt sie gefährlicher als in den ersten neun Jahren ihres Daseins in Afghanistan. Dass die Amerikaner 5.000 Mann in den Norden verlegt haben, wird von den Taliban wie der Hezb-e Islami und den usbekischen ­Jihadisten als Herausforderung angenommen. Die Devise: Durch Angriffe und Attentate auf deutsche Soldaten den Abzugsdruck erhöhen. Ein Kalkül von durchschau­barer Kausalität. In Worte gefasst: Wenn die Bundeswehr auf einen Teilabzug oder gar Totalausstieg bedacht ist, wird sie das Terrain zwischen Kunduz und Mazar-i-Sharif entweder aufgeben, was einer Kapitulation gleichkäme, oder „säubern“ müssen, indem sie den Hochsicherheitstrakt der eigenen Basen noch öfter verlässt.

Die Risiken eines solchen Vorgehens sind hoch, doch gibt es einen strategischen Imperativ, der alles überlagert: Die Metropole Mazar-i-Sharif muss gehalten werden. Von hier aus lassen sich die wichtigsten Trassen hinein ins zentralasiatische Kernland nach Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan kontrollieren. Für die Islamische Bewegung Usbekistans mit ihren Ambitionen auf den großen muslimischen Umsturz im postsowjetischen Zentralasien ist das ebenso verlockend wie für die Taliban, die wissen, wie wichtig diese Trassen als Nachschub-Linien für die NATO geworden sind, seit der Transit über Pakistan (Route Peshawar-Jalalabad-Kabul) massiv gestört wird.

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