Seismografisches Gespür

Griechenland entflammt Ohnmächtige Wut und wütende Ohnmacht

In den Wochen, bevor in den Straßen von Athen, Thessaloniki und anderswo die Rauchsäulen aufstiegen, sind schätzungsweise - das sagen seriöse Quellen - mehr als 1.000 Milliarden Dollar weltweit aus den Bilanzen von Banken verschwunden. Aus dem Fenster geflogen, zu Asche zerfallen, "verbrannt". Die Branche besitzt nicht nur viel destruktive Vehemenz, sondern in semantischer Hinsicht Sinn fürs Dramatisch-Symbolische. Halbwegs geräuschlos ist das alles passiert, denn es sind ja nur Zahlenkolonnen auf Bildschirmen. Ganz ohne Feuer, ohne beißenden Rauch.

Der stieg nun in Athen aus brennenden Autoreifen. Und muss auch gleich bis nach Deutschland gezogen sein, um dort einigen Kommentatoren den Blick zu vernebeln. Jugendliche seien am Werk gewesen, die sich "politische Botschaften grundsätzlich nur als Wurfgeschosse" vorstellen könnten, hieß es etwa in einer großen Zeitung. Glaubt der dortige Autor das wirklich? Was vermisst er? Eine feingeistige Diskussionskultur der Ohnmächtigen? Den Kniefall vor dem Diskursaltar?

Noch jeder Wetterbericht kennt die "gefühlte Temperatur". Vielleicht werden wir in zehn Jahren (vermutlich eher) wissen, das seismografische Gespür der Deklassierten von Athen war einst sehr viel ausgeprägter als sich das mancher politischer Kommentator vorstellen kann. Vielleicht fühlen die Jugendlichen das Unrecht, das sie von allen Seiten umstellt, als tägliche unverschämte Beleidigung. Und sehen sich einem Gegner unterlegen, der längst kein Gesicht mehr hat. Und überhaupt, was richtet ein Molotow-Cocktail, was richtet eine als "Wurfgeschoss" verkleidete "politische Botschaft" gegen eine Aktie oder einen Aktienfonds aus? Wer besiegt wen? Wer entfaltet mehr zerstörerische Kraft?

So darf nicht gefragt und schon gar nicht verglichen werden, zetert das Reinigungskommando aus dem Political-Correctness-Container, das unsere Zeitungen, Nachrichtendienste und Online-Portale schön sauber hält. Nur im Theater lächelt und applaudiert der smarte Bürger aufgeräumt, wenn Herr Macheath fragt: "Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" Dort ist die vergleichende Unterstellung erlaubt. Drinnen! Nicht draußen!

Draußen sterben täglich weltweit 30.000 Kinder an den Folgen von Hunger, Elend und Krankheit, wie das Welternährungsprogramm gerade mitgeteilt hat. Draußen retten weltweit viele Regierungen samt der ihnen anvertrauten - oder sollte man sagen: ausgelieferten - Staaten ein ganzes Bankensystem. Was freilich nicht wohlfeil zu machen ist, sondern nur teuer erkauft werden kann. In Deutschland mit vorerst 480 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, sehr viel mehr als die zwölf Milliarden Dollar, die jüngst auf der Welternährungskonferenz in Rom zugesagt wurden, um etwas für die Hungerregionen in Afrika, in Asien und in der Karibik zu tun. Und von denen derzeit gerade eine Milliarde verfügbar ist, wie die britische Hilfsorganisation Oxfam beklagt. Was auch damit zusammenhängen dürfte, dass - wie gesagt - gerade mehr als 1.000 Milliarden Dollar "verbrannt" sind.

So bleibt für 2008 das folgende Rechenexempel und sei jedem Jahresrückblick empfohlen: Wenn pro Tag weltweit 30.000 Kinder an Hunger, Elend und Krankheiten sterben, sind das elf Millionen in zwölf Monaten. Heinrich Heine dichtete vor mehr als anderthalb Jahrhunderten: "Wenn du aber gar nichts hast, ach, so lasse dich begraben. Denn ein Recht zum Leben, Lump, haben nur, die etwas haben."

"Der Fortschritt mag eine Schnecke sein", beginnt der Leitartikel, aus dem eingangs zitiert wurde. Halten wir also fest, elf Millionen Menschen werden in diesem Jahr aus Not gestorben und mehr als 1.000 Milliarden Dollar aus Hochmut "verbrannt" worden sein. Mit einem solch außergewöhnlichen Zerstörungswerk können es die Empörer von Athen kaum aufnehmen. Wie gesagt, was nützt ein Molotow-Cocktail gegen eine Aktie? Gar nichts. Ob sich junge Griechen nun ihre politischen Botschaften "grundsätzlich nur als Wurfgeschosse vorstellen" oder nicht. Feststeht, sie werden bis auf weiteres davon nicht mehr haben als verbrannte Finger.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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