Wolodymyr Selenskyj ist nicht zu beneiden, aber selbst schuld. Als Präsident leerer Versprechen hat er sich in die gleiche Falle manövriert, in der schon Vorgänger Poroschenko saß. Er will die Ostukraine befreien und kann es nicht. Russland würde dem Donbass militärisch beistehen, darin besteht die präventive Botschaft seines Truppenaufmarschs. Beim unvermeidlichen Schlagabtausch wäre eine kämpfende ukrainische Armee auf den mitkämpfenden Waffenbruder NATO angewiesen, um nicht unterzugehen. Der wird sich hüten. Solidaritätsadressen, Sanktionen, Aufrüstung, Militärberater, gemeinsame Manöver – alles könnt ihr haben, würde NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beteuern, könnte er frei reden. Aber den letzten Offenbarungseid bleiben wir schuldig, die Ukraine mit den Privilegien eines Vollmitglieds zu versehen, inklusive Bündnisgebot und Beistandspflicht. Daran hindert der offene Territorialkonflikt des Aspiranten. Besser: Davor schützt er die NATO.
Was bleibt Selenskyj anderes übrig, als zu versuchen, die vor sich her zu treiben, die ihn in diese Ausweglosigkeit getrieben haben? Also verbreiten seine Diplomaten die Legende von der todgeweihten Ukraine, die Russland auslöschen wolle. Feindbilder müssen nicht überzeugen, sondern überwältigen. Allerdings tangiert dieser Drang zum apokalyptischen Horror ein informelles Agreement zwischen Kiew und den westlichen Paten. Gemeint ist die stillschweigende Verabredung, dass die ukrainische Führung über ihre Verhältnisse leben, es aber nicht übertreiben darf. Wenn also Selenskyj, wie Anfang April geschehen, ein „Dekret über die De-Okkupation der Krim und des Donbass“ unterschreibt, wird er von seinen externen Beschützern auf den Pfad realistischer Genügsamkeit zurückgeführt, ohne über Gebühr düpiert zu werden. Es gibt das propagandistische Feuerwerk, um die „aggressiven Russen“ zu geißeln, und es gibt das Bedürfnis nach Deeskalation. So werden die beiden US-Kreuzer nach russischem Protest nicht wie angekündigt ins Schwarze Meer verlegt, verabschieden die EU-Außenminister keine neuen Sanktionen, ist der Videokonferenz Merkel-Macron-Selenskyj vom 16. April laut Bundespresseamt zu entnehmen: Man habe betont, die Minsker Vereinbarungen seien „auf beiden Seiten vollständig umzusetzen“. Selenskyj muss zur Kenntnis nehmen, Berlin und Paris halten an Minsk fest, auch wenn Kiew den Vertrag von 2015 als gescheitert verwirft. „Vollständig umsetzen“ erinnert an die ukrainische Bringschuld laut Artikel 3 des Abkommens, eine Autonomie des Donbass als Verfassungsauftrag zu verankern. Schließlich wird das Ansinnen Selenskyjs nirgends erwähnt, den „Minsker“ durch einen „Warschauer Prozess“ zu ersetzen. Davon wären die Führer der Donezker und Lugansker Entitäten suspendiert, da ihnen die polnische Regierung eine Einreise verweigert. Aber Merkel und Macron haben mit Polen nichts vor, sondern halten es mit dem Normandie-Format, sprich: einer deutsch-französischen Mediation der ukrainisch-russischen Misere.
Präsident Selenskyi kann aus alldem lernen, was er eigentlich wissen sollte. Gibt er die feindselige Haltung gegenüber Russland auf, kostet das westliche Hilfe, die zum wirtschaftlichen Überleben gebraucht wird. Bleibt es beim Konfrontationsmodus, versiegt das Helfertum der westlichen Freunde, sobald kriegerische Verwicklung droht. Diese Alternative sich ausschließender Möglichkeiten kann auch Status quo genannt werden.
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