Selig sind die Verladenen

Handelsvertrag Mit der Übereinkunft zum künftigen Warenverkehr bleibt Großbritannien stärker an die EU gebunden, als das dem Aussteiger lieb sein dürfte
Bis auf Weiteres bleiben EU und Großbritannien in Rufweite und eng miteinander verflochten
Bis auf Weiteres bleiben EU und Großbritannien in Rufweite und eng miteinander verflochten

Foto: Chris J Ratcliffe/Getty Images

Niemand weiß es. Nur Vermutungen lassen sich anstellen, ob und wie der tagelange, monströse LKW-Stau im Südosten Englands Einfluss auf das ultimative Finale bei den Verhandlungen über einen Brexit mit statt ohne Handelsvertrag hatte.

Zwischen Großbritannien und Frankreich war zum Stehen gebracht, was in Bewegung sein sollte. Eigentlich musste. Das Ganze erinnerte an eine symbolträchtige Heimsuchung. Nahm sie vorweg, was Zollerhebung, Einfuhrbeschränkungen und mehr heraufbeschwören, sollte man sich in Brüssel nicht einigen. Was bleibt, ist eine Erfahrung, die vorzüglich in das sich neigende Jahr passt.

Hochgradig verwundbar

Nicht nur nationale Gesundheitssysteme sind hochgradig und mitunter – von den Folgen her – irreversibel verwundbar. Ähnliches gilt für einen Warenaustausch, der nicht allein wegen seines Umfangs, sondern auch wegen des Gebots, innerhalb bestimmter Zeitmargen abgewickelt zu werden, eine ebenfalls verwundbare Arbeitsteilung erhält oder schädigt – oder im Extremfall zerstört.

Aus Studien, die sich auf den Güterverkehr zwischen Großbritannien und Deutschland im Jahr 2019 beziehen, geht hervor, dass im No-Deal-Fall – hätte es den Ende letzten Jahres gegeben – die Einkommens- bzw. Einnahmeverluste für die britische Ökonomie bei 57 Milliarden Euro und für deutsche Exporteure wie Importeure bei fast zehn Milliarden gelegen hätten.

Binnenmarkt à la carte?

Auf beiden Seiten der Brüsseler Verhandlungsbarriere galt demnach die höchste Warnstufe. Es war mehr als nur Gefahr im Verzug. Immerhin bescheinigen seriöse Prognosen dem Vereinigten Königreich für 2021 Corona-, Krisen- und System-bedingt ein um 4,9 Prozent rückläufiges Bruttoinlandsprodukt (BIP). Sollte ein ungeregelter EU-Ausstieg nicht vermieden werden, müsse mit einem Abfall von bis zu acht Prozent gerechnet werden, so die Analysten.

Die Regierung von Boris Johnson konnte das schwerlich ignorieren, sie musste zu guter Letzt einen Abschluss finden, der bei aller inszeniert anmutenden Dramatik über eines nicht hinwegtäuschen kann: Es gibt keinen Kompromiss. Johnson musste sich darauf einlassen, dass die EU ihren Binnenmarkt als monolithische Bastion verteidigt. Es bleibt dabei: Dort ist nur zum ökonomischen Wettbewerb zugelassen, wer sich dem geltenden (freilich nicht dem möglicherweise künftig modifizierten) Reglement bei den Umwelt-, Sozial- und Industrie- und Subventionsstandards unterwirft.

Ein Zugang light zum Binnenmarkt, wie ihn sich die Briten als Zeichen ihrer Post-Brexit-Souveränität vorstellten, war und ist für die Brüsseler EU-Zentrale nicht hinnehmbar. Dies würde destruktive Briten belohnen und hätte das Zeug zur Blaupause. EU-Staaten könnten im Konfliktfall geltend machen, wie den Briten solle man ihnen gleichfalls Sonderrechte einräumen.

Die jetzt gefundene Übereinkunft verbietet dem EU-Aussteiger einen Binnenmarkt à la carte nach dem Prinzip – die Zollfreiheit auskosten, aber bei den Standards das eine oder andere auslassen. Desgleichen dürfte nun feststehen, dass es keinen Sonderstatus für Nordirland geben muss, der als Notlösung (Backstop) greift, falls kein Handelsvertrag zustande kommt. Das heißt, die innerirische Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden bleibt für den Warenverkehr so durchlässig und unsichtbar wie gehabt.

Was die konservative Regierung für sich als Erfolg ausgeben kann und garantiert wird, sollte dieser Handelsvertrag wie vorgesehen am 30. Dezember im Unterhaus zur Abstimmung stehen, das ist der Umgang mit Vertragsverletzungen und Streitfällen. Werden dazu unabhängige Schiedsgerichte angerufen, ist die EU-Rechtsprechung in Gestalt des EU-Gerichtshofs (EuGH) ausgebootet. London wird das als kolossalen Souveränitätsgewinn feiern. Nicht ganz zu Unrecht. Das letztlich an der Trump-Regierung gescheiterte Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU sah sogenannte „effektive Schiedsgerichte“ vor, in denen TTIP-Kritiker einen Einstieg in Grauzonen der Rechtsprechung sahen.

Schließlich werden britischen Fischern in den eigenen Hoheitsgewässern nur 25 Prozent des bisherigen Fangwertes der EU-Fischer zugestanden, nicht 60 Prozent, wie das die britischen Verhandler noch zu Beginn der Woche als unumgängliche Quote reklamierten. Über fünfeinhalb Jahre hinweg soll die EU-Fangquote jedoch Schritt für Schritt schrumpfen..

Vorerst abgesagt

Feststeht: Großbritannien bleibt eng mit Kontinentaleuropa oder eben der EU verflochten. Der große Durchbruch hin zu einer freischwebenden handelspolitischen Souveränität, die keine Zwänge, nur die eigenen Bedürfnisse kennt, ist gestundet. Wenn nicht für eine kleine Ewigkeit abgesagt.

Ungewollt hat bereits Theresa May als Premierministerin dieser Erfahrung den Weg geebnet. Sie wollte mit traditionellen Partnern aus der Zeit des britischen Imperiums wie Indien und Pakistan stärker ins Geschäft kommen, dazu den Warenaustausch mit China wie Japan hochfahren und die Befreiung von der EU durch einen Freihandelsvertrag mit den USA krönen. Was reichlich illusionär erschien, da May von der Annahme ausging, dass Präsident Trump seine protektionistische Versuchung allein gegenüber Großbritannien demonstrativ zügeln würde.

Große, kleine Welt

Nachfolger Johnson – gegen Realpolitik ähnlich immun – träumte weiter und zwar vom atlantischen Handelsblock mit den USA. Er war davon überzeugt, dass die US-Administration dazu bereit sein würde, sollte Donald Trump nach einem Triumph bei der Präsidentenwahl am 3. November vor einer zweiten Amtszeit stehen.

Da eine solche ausfällt, haben sich auch die Aussichten auf eine angloamerikanische Entente der handelspolitischen Freibeuterei zerschlagen, der eine Welt zu Füßen liegt. Wie sich zeigt, kann diese Welt klein sein und schon am Ärmelkanal enden, also buchstäblich vor der eigenen Haustür.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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