Die Fliehkräfte unter den DDR-Parteien sind schon beträchtlich, als der designierte Ministerpräsident Hans Modrow nach dem 9. November 1989 eine neue Regierung zu bilden sucht. Am 7. November hat der bisherige Regierungschef Stoph samt Kabinett demissioniert. Was Modrow nun anstrebt, lässt sich auf den Begriff gebracht als Anomalie für die politische Realität des Landes deuten und erinnert bestenfalls an die Zeit nach der Staatsgründung vom 7. Oktober 1949, als die führende Rolle der SED zwar real vorhanden, aber noch kein Verfassungsverdikt war wie seit 1968. Er will mit den anderen Parteien – LDPD, CDU. NDPD und DBD – eine Koalitionsregierung formieren, also den bisherigen „Demokratischen Block“ verabschieden. Statt eines Patriarchats soll eine Partnerschaft unter Gleichen gelten. Doch Modrow hält – oder versucht es zumindest – die Balance zwischen Kontinuität und Erneuerung, sonst wäre ein Premierminister der SED wohl kaum gesetzt und die Ministerliste der SED nicht mit Generalsekretär Egon Krenz abgestimmt.
Nicht um jeden Preis
Modrow holt sich wissenschaftliche Beistand in der Person des Prorektors der Humboldt-Universität und Sozialwissenschaftler Dieter Klein. Jahre später, in seinen Memoiren, zitiert er dessen Credo, das als Zitat des DDR-Lyrikers Heinz Kahlau besagt: „Wir leben in einem Haus, an dem immer gebaut werden muss, damit es bewohnbar bleibt. Einen Einsturz können wir uns nicht leisten, wir haben nur dieses Haus, also bauen wir täglich, sorgsam, manchmal überängstlich, selten übermütig ...“ So sehr das auch der Realität entsprechen mag – Mitte November 1989 hat die mit einem schwindsüchtigen Staat zu tun, den zu regieren nicht unbedingt zu Lorbeeren verhelfen muss, wenn sich schon die Nebel über einer gesamtdeutschen Zukunft zu lichten beginnen. Insofern sind zwar alle Parteien prinzipiell zur Kooperation bereit, aber nicht Koalitionäre um jeden Preis. Ihr Interesse auf einem sinkenden Schiff anzuheuern, auf dem sie zwar 40 Jahre lang gut mitgefahren sind, das jetzt aber auf Grund zu laufen droht, hält sich in Grenzen. Es gibt für LDPD und CDU-Ost die ersten Fühlungnahmen mit der FDP beziehungsweise der CDU-West.
Die Claims abgesteckt
Modrow erfährt keine Blockaden, aber ein verständlicherweise ausgeprägtes Bedürfnis nach politischer Eigenständigkeit und Profilierung. So reklamiert der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach für sich das Außenministerium, zieht dann aber zurück, als im künftigen Kabinett die Auffassung überwiegt, den jahrelangen Amtsinhaber Oskar Fischer wegen seiner internationalen Kontakte in diesem Amt zu belassen. Zur Kompensation wird der LDPD-Politiker Peter Moreth als stellvertretenden Regierungschef nominiert und von der Volkskammer am 17. November bestätigt.
Die CDU – sie wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Lothar de Maizière geführt – verwahrt sich dagegen, dass für die SED Wilfried Poßner, bis dahin Vorsitzender der DDR-Pionierorganisation, das Volksbildungsressort übernimmt. Schließlich wird ein Kompromiss gefunden. Professor Karl-Heinz Emons, Rektor der Bergbauakademie Freiberg, übernimmt dieses Ministerium , dem damit trotz aller Widerstände weiter ein SED-Mitglied vorsteht. Kulturminister soll Hans-Joachim Hoffmann (SED) bleiben, der seine Präsenz in der Regierung aufkündigt, nicht nur weil ihn gesundheitliche Gründe zum Rückzug zwingen, sondern nach seinem Eindruck der nötige Beweis der versprochenen Erneuerung nicht angetreten werde, sollte er ausharren. So übernimmt sein bisheriger Staatssekretär das Amt. Es handelt sich um den zu diesem Zeitpunkt 47-jährigen Dietmar Keller, der sofort mit Wiedergutmachungs-Einladungen an den Sänger Wolf Biermann und den Schauspieler Manfred Krug für Aufsehen sorgt.
Kurz vor Jahresende wird Keller durch den Sonntag (Ausgabe 50/89) interviewt – auch dies ein aufschlussreiches Zeitdokument, aus dem vorzugsweise eines ersichtlich wird: Ein Regierungsmitglied geht davon aus, dass es für eine Kulturpolitik beim Übergang von einem zentralistischen zu einem demokratischen Sozialismus verantwortlich zeichnet. Keller redet im Blick auf die offene Grenze keiner Selbstaufgabe oder Übergabe der DDR das Wort, sondern eine Vertragsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten, die nicht zuletzt auch durch ein Kulturabkommen zwischen Ostberlin und Bonn geprägt sein sollte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.