Sich selbst zuprosten

EU Viktor Orbáns Antrittsrede vor dem Europa-Parlament lässt erahnen, dass Ungarns Premier die Rolle des Zöglings gegen die des Zuchtmeisters getauscht hat

Die Erniedrigten, Beleidigten und Gedemütigten aus Osteuropa haben den Racheengel im Tornister und packen ihn gelegentlich aus. Wenn es sein muss vor den Hochaltären der Europäischen Union. Polens im Vorjahr ums Leben gekommener Präsident Kaczynski war darauf abonniert und konnte oft nicht begreifen, warum die Interessen der EU auch die seines Landes sein mussten. Tschechiens Staatschefs Václav Klaus fand an stoischem Dissidentum Gefallen. In Rage versetzt, kannte er keine Skrupel, einer Gruppe von EU-Parlamentariern postdemokratische Manieren zu attestieren. Die hatten ihn beim Treffen auf der Prager Burg Ende 2008 wie einen Lakaien abgekanzelt, weil er dem Lissabon-Vertrag das Hosianna verweigerte. Allen voran der grüne Großsprecher Daniel Cohn-Bendit.

Inzwischen kann sich Ungarns Premier Orbán für das Aufbäumen des niederen Adels aus den Ostdomänen der EU erwärmen. Er tut es nicht als irgendwer – er will als EU-Ratspräsident keine gehörnte, sondern erhöhte Autorität sein. Folglich ballte er bei seiner Antrittsrede vor dem Europa-Parlament rhetorisch die Fäuste und fiel aus der Rolle. Genauer: Er tauschte die des Zöglings gegen jene des Zuchtmeisters, der sich Vormundschaften über sein Mediengesetze, seine Rentenpolitik oder Selbstdarstellung verbittet. Im Klartext schien ihm die Botschaft an­gebracht: Wer den ungarischen Regierungschef attackiert, beschädigt den derzeitigen EU-Prälaten. Diese Rundumverteidigung hat allerdings allein mit ungarischen Zuständen zu tun und wenig mit europäischen Malaisen wie Verschuldungs­dilemma, Euro-Dämmerung und innere Erosion. Die sollte der Ratspräsident eigentlich behandeln, müsste er nicht ständig der EU bedeuten: Die osteuropäischen Novizen sind mittlerweile erwachsen und haben ihren eigenen Kopf und Willen. Sie wollen auftrumpfen und nationalistisch, demokratieskeptisch und Egozentriker sein. Und sich der vielen Streicheleinheiten nicht mehr erinnern, die es einst gab für das Schleifen des Sozialismus und das brave Vorsprechen im Westen, ob man nicht dazu gehören dürfe. Man gehört nun dazu und will bei ­Tische auch einmal sich selbst zuprosten dürfen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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