Mit Raritäten der Demokratie in Europa sollte umgegangen werden, als seien es Restbestände, für die schwer Ersatz zu finden ist. Das gilt besonders für Referenden, die in der EU mehr gemieden als geschätzt werden. Nach Volksabstimmungen in Irland 2008 und 2009 über den Lissabon-Vertrag dauerte es sieben Jahre, bis die Briten am 23. Juni 2016 darüber zu befinden hatten, ob sie ihr europäisches Dasein künftig dies- oder jenseits der EU bestreiten wollen. Eine knappe, aber klare Mehrheit von 51,9 Prozent mochte sich verabschieden. Wobei es bleiben sollte.
Referenden wie dieses waren kein Hochamt der Volkssouveränität, sollten jedoch nicht zur Farce degradiert werden, indem man sie wiederholt, um ihr Ergebnis nachträglich zu annullieren. Daher wäre auch Sadiq Khan, Labour-Bürgermeister von London, gut beraten, keine erneute Befragung zu verlangen, um den Brexit noch absagen zu können. Er tut es trotzdem, und gerade jetzt. Warum? Hält Khan Realitäten für Fiktionen? Dann ist es mit der Redlichkeit seines Ansinnens nicht weit her. Er müsste wissen, erst wenn Theresa May und die Tory-Regierung abdanken, wäre an ein erneutes Votum überhaupt zu denken. Bis dahin wird der 29. März 2019 verstrichen sein, der Tag des Ausstiegs mit oder ohne Vertrag, je nach dem wie die Verhandlungen zwischen London und Brüssel ausgehen. Gewiss sind viele Briten davon beeindruckt, mit welch kompromissloser Härte in der EU-Zentrale die Brexit-Modalitäten definiert werden. Die Devise von Unterhändler Michel Barnier scheint zu sein: Wer uns verlässt, hat alle Rechte eines EU-Mitglieds verwirkt. Der darf keinen Fuß mehr in die Tür zur Gemeinschaft stellen, um auf deren Binnenmarkt Waren kaufen und verkaufen zu können wie bisher.
Es war absehbar, dass vor allem die EU-Kommission ein Exempel statuieren wird, um Nachahmungstäter abzuschrecken. Eine erodierende Union durch den Präzedenzfall Großbritannien zu disziplinieren, das kommt ihr gelegen. Also führt kein Weg zurück. Wer genau hinschaut, erkennt das mühelos und sollte nicht so tun, als ließe sich Unwiderrufliches umkehren. Da Sadiq Khan kein Phantast ist, dürfte ihm das kaum entgangen sein. Insofern ist zu fragen, welche Absicht liegt seinem Vorstoß tatsächlich zugrunde, zumal er bislang stets argumentierte, nochmals abstimmen zu lassen, schade der Demokratie.
Offenbar soll eine Woche vor dem nächsten Labour-Kongress Parteichef Jeremy Corbyn unter Druck gesetzt und seine Strategie durchkreuzt werden, auf Neuwahlen zu setzen. Die wären absehbar, sollte Labour im Unterhaus jeden wie auch immer gearteten Brexit-Deal geschlossen ablehnen und sich dabei einiger Tory-Dissidenten versichern, um May die ultimative Niederlage beizubringen. Dazu braucht der Labour-Chef einen Parteitag, der sich mit seiner Agenda der sozialen Gerechtigkeit beschäftigt, statt surreale Debatten um ein zweites Brexit-Referendum zu führen. Dass ihm Labour-Zentristen wie Khan die aufzwingen wollen, liegt auf der Hand. Sollten 2019 wirklich Wahlen anstehen, ließe sich der Sozialist Corbyn als Spitzenkandidat und potenzieller Premier kaum verhindern. Dann wäre dieses Votum zugleich ein Referendum über die Frage, wer für den unausweichlichen Brexit-Schock aufkommen muss. Corbyn hat dazu dezidierte Vorstellungen. Vielleicht hilft ihm die britische Demokratie mit ihrem undemokratischen Wahlrecht, denen Geltung zu verschaffen.
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