Wie verhalten die EU in der Katalonien-Krise agiert und fast unsichtbar bleibt, das grenzt an Selbstverleugnung. Die Brüsseler Kommission reklamiert ein Neutralitäts- und Nichteinmischungsgebot, wie das Kommissionsvize Frans Timmermans vor dem Europaparlament beschworen hat. Als sollte der Wille des spanischen Premierministers heiliggesprochen werden, wenn der sich für eine „innere Angelegenheit“ jede Einwirkung von außen verbittet. Allerdings hat Mariano Rajoy durch den Einsatz staatlicher Gewalt am Tag des Referendums eine Parteilichkeit offenbart, von der die EU-Kommission vereinnahmt wird, lässt sie ihn anstandslos gewähren. Zumindest ein Angebot zur Mediation war fällig, sollte die in Brüssel geltend gemachte Neutralität nicht auf eine allzu offenkundige Parteinahme zugunsten der Regierung in Madrid hinauslaufen. Wurde darauf verzichtet, trugen die EU-Autoritäten eine Mitverantwortung für jede weitere Eskalation im Konflikt und den kompromisslosen Kurs Rajoys.
Die stoische Reserviertheit in Brüssel hat irritiert. Sie steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu den derzeit durch die Staatenunion geisternden Neugründungsfantasien, ausgelöst durch die Rede des französischen Präsidenten am 26. September in Paris. Emmanuel Macrons Visionen gelten allenthalben als Kompass für ein postnationales, von neuem Integrationsfuror beseeltes Europa. EU-Enthusiasten bersten vor Erwartungen. Da verwundert es schon, wird der spanischen Staatskrise das Zeug zum europäischen Konflikt und eben solcher Konfliktregulierung bestritten. Soll die EU jener Läuterung anheimfallen, wie sie Macron als existenziell notwendig beschreibt, müsste Brüssel zur Verhandlungsmission entschlossen sein.
Präzedenzfall und Paradigma
Nicht allein, um in Katalonien zu deeskalieren, sondern aus eigenen Interessen. Die Frage lautet: Was bedeuten die spanischen Zustände für den Zustand der EU? Das Abdriften osteuropäischer Staaten, die ungelöste Flüchtlingsfrage, die schwelende Eurokrise, das Ausscheren Großbritanniens, der schwindende Anteil der EU am Welthandel, der Verlust an weltpolitischem Ranking – und dann noch ein zerrissenes, aufgewühltes Spanien? Es könnten der Erosionen zu viele sein. Sicher wäre die EU-Vermittlung ein Präzedenzfall, der sich bei ähnlichen Krisen anderswo in Europa als Muster bemühen oder gar fordern ließe. Umso mehr werden Mitgliedsländer mit separatistischem Potenzial ein diplomatisches Engagement der EU in Spanien mit gemischten Gefühlen sehen. Man denke an Belgien mit seinen stets scheidungswilligen Flamen, Italien mit einem sezessionistischen Norden oder Großbritannien, wo sich in Schottland für 2019 ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum abzeichnet, sobald die Brexit-Konditionen bekannt sind. Auch Korsen in Frankreich und Siebenbürger Sachsen in Rumänien wollen nicht auf ewig im jetzigen Staat verharren.
Andererseits, wenn ein Europa à la Macron zustande kommen soll, dann doch nur als föderatives System, das auf einen Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten angewiesen ist. Insofern wäre eine europäische Befriedung der spanischen Zerwürfnisse nicht nur ein Präzedenzfall, sondern auch ein Paradigma für die beanspruchte „Neugründung“. Sollte die EU zu mehr Geschlossenheit finden, dann auch durch ein Krisenmanagement, das nicht allein auf den Erhalt einer Euro-Ökonomie bedacht ist. Supranationalität gilt für alle oder gar nicht. Sie kann schwerlich selektiv nach dem Devise gehandhabt werden, die Justizreform der polnischen Exekutive zieht ein Vertragsverletzungsverfahren nach sich, eine durch die Regierung Rajoy gewaltsam durchgesetzte Staatsräson ist kein Eingreifen, schon gar keinen Vermittlungsversuch wert. Wer hätte gedacht, dass die von Frankreich favorisierte Tendenz zu mehr EU-Governance umgehend einen ersten Praxistext zu bestehen hat?
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