Sumpf und Stacheldraht

Europa Die Situation für Geflüchtete an der Grenze zwischen Polen und Belarus wird immer dramatischer. Doch anstatt einzugreifen, guckt die EU-Kommission weg
Ausgabe 40/2021
Bewaffnete polnische Soldaten halten an der Grenze zu Belarus Geflüchtete von der Einreise ab
Bewaffnete polnische Soldaten halten an der Grenze zu Belarus Geflüchtete von der Einreise ab

Foto: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Man sei doch nicht Belarus, sondern die Europäische Union mit ihren Werten, beteuert EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, wird sie zur prekären Lage von Flüchtlingen zwischen Polen und Belarus befragt. Was haben Iraker, Syrer, Nordafrikaner oder Afghanen von dieser Versicherung? Sie harren aus im Niemandsland, suchen Zuflucht in der EU und scheitern am EU-Mitglied Polen. Ihnen bleibt vorenthalten, was im vereinten Europa als rechtliches Minimum gilt: Dass laut Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 Schutzsuchende, sobald sie auf dem Territorium eines EU-Staates ankommen, einen Asylantrag stellen und das Asylverfahren abwarten können. Aber Polen lässt sie nicht ankommen. Was die Frage nahelegt, wie groß ist eigentlich der Abstand zwischen dem Rechtsverweigerer Polen und dem Unrechtsstaat Belarus, zwischen EU und Nicht-EU?

Darüber zu entscheiden hätte nicht zuletzt die EU-Kommission. Was unternimmt sie, wenn offenbar bereits vier oder fünf oder mehr Flüchtlinge in den Sümpfen nahe der polnischen Grenze gestorben sind? Greift sie ein oder wird kapituliert? Die Frage ist müßig, denn beides unterbleibt. Stattdessen kommt die Variante zum Zug, sich vorführen zu lassen und zu dulden, was geschieht. Nicht allein Hilfsorganisationen und Ärzten verweigern die polnischen Behörden das Betreten der Grenzregion. Von der EU-Ostgrenze verbannt sind ebenso die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die EU-Kommissarin Johansson. Je mehr Polen seine Souveränität ausspielt, desto krasser wird die der EU bestritten. Eindrücklicher kann der vor einem Jahr von der Brüsseler Kommission vorgelegte Vertrag über Migration und Asyl nicht ad absurdum geführt werden. Darin war keineswegs verankert, dass an Grenzen in Europa dem Prinzip Abschreckung Geltung verschafft wird. Genau das passiert, wenn Polens Armee das Land gegen „Straftäter und Kinderschänder“ (Innenminister Kamiński) sowie „Taliban-Sympathisanten“ (Verteidigungsminister Błaszczak) schützt, den Ausnahmezustand durchsetzt, Stacheldraht ausrollt und Menschen abwehrt. Wer das tut, verstößt gegen humanitäre Standards, ob nun die weißrussische Regierung ihre Hände im Spiel hat oder nicht, ob sich Alexander Lukaschenko für die EU-Sanktionen rächen will oder nicht. Wer garantiert denn, dass sich die Niederlande, Österreich oder Dänemark mit ihrer rigiden Migrationspolitik anders verhielten als Polen? Wer wagt zu sagen, ob sich Griechenland anders verhält? Im Übrigen beruft sich Minsk auf Verträge zur visafreien Einreise, die mit Syrien, dem Senegal, Gambia, Irak, Mali, Pakistan, Ägypten und Jordanien geschlossen sind. Dadurch legitimierte Einreisen bezeugen nicht automatisch den Willen, in Belarus leben zu wollen. Insofern kann schwerlich beanstandet werden, wenn Freizügigkeit waltet für den Weg nach Polen oder Litauen.

Die EU-Kommission könnte mit Lukaschenko über seine Auslegung von Freizügigkeit verhandeln, doch wird dem seit der manipulierten Wahl vom August 2020 die Anerkennung als Staatschef verweigert. Und was wäre anders, was wäre besser, würde es ein Arrangement geben? Sich Lukaschenko als Prellbock engagieren wie Präsident Erdoğan seit 2016 in der Türkei?

Und die Abgeschnittenen im Niemandsland? Sie warten, Trugbilder im Kopf und Rastlosigkeit in den Beinen, die versagen sollten, wenn sie aufgeben dürften. Des Lebens müde, des Hoffens noch nicht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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