Tausend Wüsten

Verstoßen Nach dem Pogrom vom 9. November 1938 werden letzte jüdische Schüler aus „arischen“ Lehranstalten vertrieben. Sie müssen an noch geduldete jüdische Volksschulen wechseln

Die Krähen schreien den Winter herbei, bald wird es schneien. Was kann es dem, der jetzt noch Heimat hat? Was tut es dem, der starr nach rückwärts schaut? Die Welt ist kein Tor mehr irgendwohin, nur tausend Wüsten breiten sich. Wer das erfährt, macht nirgends halt.

Aber es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als dort halt zu machen, wo ihnen noch Halt bleibt. Es sind Zehntausende jüdische Bürger Berlins, denen der 9. November 1938 bedeutet, dass jede Hoffnungen vergeblich war, es könnte in Deutschland nicht nur tausend Wüsten geben. An der II. Jüdischen Volksschule für Mädchen in der Auguststraße, an der Grenze zum Scheunenviertel, dem Lebensort vieler jüdischer Familien, beginnt der Unterricht am 10. November 1938, einem Donnerstag, verspätet. Um bald abgebrochen zu werden, ohne dass die Schülerinnen nach Hause gehen. Draußen liegt zu viel Brandgeruch in der Luft. „Sie schändeten zu Boden Deines Namens Stätte. Sie sprachen in ihrem Herzen, lasst sie uns quälen insgesamt. Verbrannten alle Gottesstätten im Land“, lautet der 74. Psalm, den Rabbiner, als seien sie Propheten des Unheils, oft zitiert haben in Synagogen, von denen nach einer Nacht des Grauens nichts als schwelendes Gebälk geblieben ist. „Wir sind mit unserer Geduld am Ende!“, schreit der Völkische Beobachter dem Pogrom seines Mobs hinterher.

Durch Erlass vom 15. November 1938 befiehlt Reichserziehungsminister Bernhard Rust, dass auch die letzten „nichtarischen“ Schüler Gymnasien, Mittel- und Volksschulen zu verlassen hätten. Seit dem 6. Juli 1933 bereits gilt sein „Quoten-Erlass“: An „deutschen Lehranstalten“ soll der Anteil „nichtarischer“ Schüler bei höchstens 1,5 Prozent liegen. Wird daraufhin überall nach Herzenslust relegiert?

Ausdrücklich empfohlen

Im Spreebogen am Berliner Hansa-Viertel schreien im Frühjahr 1933 die Krähen noch dem Winter hinterher, doch verliert das Wasser im Fluss allmählich sein trübes Grau. Zwischen Achenbach- und Lessing-Brücke liegen mit dem Kleist-Lyzeum und Kirschner-Gymnasium zwei Häuser, an denen jüdische Schüler und Lehrer weder drangsaliert noch relegiert werden. Als Paul Schmidt, Direktor des Kleist-Lyzeums, seine Klassen in die Osterpause entlässt, kommen von den 670 Mädchen 68 aus jüdischen Familien. Wer im Anstaltsjournal jener Jahre blättert, das im Archiv der heutigen Kleist-Europa-Schule aufbewahrt wird, kann finden, um wen es sich handelt. Rahel Lewkowitz ist darunter, die Tochter von Julius Lewkowitz, des Rabbiners aus der benachbarten Synagoge Levetzow-Straße. In der Obersekunda lernt Ruth Lewent, deren Vater als Studienrat am Kirschner-Gymnasium unterrichtet. „Dr. Kurt Lewent ist politisch unbelastet. Ein anständiger Charakter, ausgezeichneter Lehrer und Mitglied der Wissenschaftlichen Prüfungskommission“, heißt es in einer Meldung an den Reichserziehungsminister vom 14. Oktober 1935, als offenbar ein „Zeugnis“ über den nichtarischen Pädagogen angefordert ist. Zu den Schülerinnen, die sich zu Ostern 1933 am Kleist-Lyzeum einschreiben und 1939 ihr Abitur ablegen wollen, gehört die Kaufmannstochter Lilli Jacobsohn. Ihrer Familie wird die Bildungsanstalt ausdrücklich empfohlen. Das beste Haus in der Gegend am Hansa-Viertel, dieser stillen Stadtlandschaft mit den im März noch winterkahlen Bäumen voller Krähengeschrei.

Auch wenn Rahel Lewkowitz, Ruth Lewent und andere jüdische Schülerinnen am Kleist-Lyzeum vorerst unbehelligt bleiben – die Zivilcourage der Pädagogen dieser Schule dient anderswo in der Reichshauptstadt nicht als Mahnung, sondern als Missachtung der völkischen Mission. Auch häufen sich am nahen Kirschner-Gymnasium – obwohl die Direktion selbst niemanden der Schule verweist – schon mit dem Jahr 33 die „Abgänge“, wie das Schülerjournal mit lakonischer Indifferenz festhält. Über „Reichmann, Heinz-Leopold“ wird vermerkt: „Geboren 29. Januar 1921, Abgang am 29. April 1933 zur ‚Jüdischen Volksschule‘, Klopstockstraße 58“. Oder: „Henoch, Alfred und Henoch, Rolf, beide geboren am 17. Februar 1920, Abgang am 29. September 1933 zur ‚Jüdischen Volksschule‘, Rykestraße“.

Der Ausweg hat Name, Anschrift und einen guten Ruf. Bereits 1920 entsteht in Berlin der Jüdische Schulverein e.V., dessen Mitglieder aus orthodoxen, teils zionistischen Kreisen stammen und dafür sorgen wollen, dass jüdische Werte neben der Religionsstunde den gesamten Schulunterricht durchdringen. Zunächst gründet der Verein private Grundschulen, bald werden daraus Volksschulen mit einer Unter- und Oberstufe zu je vier Klassen, finanziert durch Sympathisanten, Eltern und die Schulstifter selbst. Ziel des Lernens soll es sein, „sich immer tiefer in den Reichtum und die Pracht unserer tausendjährigen Sprache zu begeben und die Geistesschätze des Judentums der jüdischen Allgemeinheit zugänglich zu machen“, hofft die Jüdische Rundschau im Oktober 1925. Besuchen anfangs Kinder aus traditionsbewussten Familien und dem ostjüdischen Einwanderer-Milieu diese Einrichtungen, kommen ab 1933 Tausende aus „assimilierten“ Elternhäusern dazu, die dem Judentum oft entsagt haben, aber nazistischem Rassenwahn ausgeliefert sind wie alle anderen.

Es bleibt eine grandiose, heute kaum noch zu ermessende Leistung der jüdischen Gemeinden in Deutschland, in jener Zeit ein Schulsystem unterhalten zu haben, das jedem Relegierten zum Refugium wird – vor dem rettenden Asyl in Palästina, vor der Emigration nach England oder Nordamerika. Und in einer Welt, die kein Tor mehr ist.

In der Reichshauptstadt gibt es die I. Jüdische Volksschule in der Kaiserstraße; die erwähnte Anstalt für Mädchen in der Auguststraße, im Dunstkreis der Großen Synagoge an der Oranienburger Straße; außerdem die III. Jüdische Volksschule auf dem Gelände des Tempels in der Rykestraße, der in Berlin als einziges mosaisches Gotteshaus das Tausendjährige Reich beinahe unversehrt übersteht; die IV. Jüdische Volksschule in der Klopstockstraße; die V. Jüdische Volksschule am Bahnhof Pankow. In Städten mit geringem jüdischen Bevölkerungsanteil hilft das Muster einstiger Dorfschulen mit einem Raum für alle. Jede dieser Stätten nimmt Kinder auf, die – werden sie nicht von dort verstoßen – „arischen“ Schulhöfen fliehen, weil sie beschimpft, gedemütigt, geschlagen werden.

Nur wenige überleben

In Berlin kümmert sich zudem das 1933 gegründete Jüdische Elternhilfswerk um verarmte Kinder, für die ein Mittagessen ausgegeben, Fahrtkosten und Bücher bezahlt werden. Im März 1936 schreibt das Gemeindeblatt über die Schule in der Rykestraße: „Wir kommen in den Speiseraum in der Erwartung, einen riesigen Saal anzufinden, der ganz auf Massenfütterung eingerichtet ist, und sehen vor uns ein typisches mittelgroßes Kinderzimmer mit acht kleinen Tischen – auf jedem ein kleiner Blumenstrauß. In der Küche arbeiten ebenso wie bei den anderen beiden jüdischen Schulspeisungen Berlins Haschara-Mädchen, denen die Arbeitszeit als Vorbereitung für Palästina angerechnet wird.“

Anfang 1933 lernen in Deutschland etwa 65.000 jüdische Schüler, davon 15.000 an jüdischen Lehranstalten, die in der Weimarer Republik auf öffentliche Hilfe rechnen durften, 40.000 an nichtjüdischen Volksschulen und 5.000 an Gymnasien und Lyzeen. 1937 zählt man noch 39.000 jüdische Schüler an fast ausschließlich jüdischen Schulen. Ende 1941 sind es 18.000 Kinder und Jugendliche, von denen nur wenige den Nazistaat überleben werden. Ihre Schulen sind kein Hort des Widerstandes, aber des Stolzes und der Selbstbehauptung. Im Berliner Jüdischen Gemeindeblatt vom November 1933 wird über den Biologieunterricht vermerkt: „Hier ist es eine dankbare Aufgabe, den Kindern zu zeigen, dass wir keine mindere Rasse sind, um ihnen so Stärke und Rückhalt zu geben.“ – Am 7. Juli 1942 verfügt Reichserziehungsminister Rust, dass „im Hinblick auf die Entwicklung der Aussiedlung der Juden … ab 1. Juli 1942 jegliche Beschulung jüdischer Kinder durch besoldete und unbesoldete Lehrkräfte untersagt ist.“ Nur tausend Wüsten breiten sich.

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