Ist der Generalsekretär der Vereinten Nationen ein Kapitulant oder ein einsamer Held des Rückzugs? Die UNO könne weder den atomisierten irakischen Staat wiederaufbauen noch das aus seinen Fugen gesprengte Gemeinwesen befrieden, bedauert Kofi Annan. Da winkt der Weltorganisation die Chance, sich genau dort zu rehabilitieren, wo sie nachhaltig delegitimiert wurde - und ihr wichtigster Politiker schüttelt den Kopf, formuliert nicht einmal den Anspruch auf eine solche Mission, so irreal sie auch sein mag. Kann der UNO im Irak wirklich nicht gelingen, wozu die USA nie in der Lage sein werden?
Auf jeden Fall signalisiert Annans Verzicht der Besatzungsmacht, dass ihr auch weiterhin auf dem Nachkriegsschauplatz mehr Spielraum bleibt, als sie auszufüllen imstande und ihr möglicherweise inzwischen lieb ist. Denn was im Inneren des Irak an sozialen Lebensorganismen zerstört wurde, kann nicht von außen implantiert werden. Selbst wenn die Vereinten Nationen dies mit einem beispiellosen Kraftakt versuchen würden - es bliebe eine Sisyphus-Arbeit, solange Kriegsrecht und Militärdiktatur das Land in Schach halten. Und daran wird sich nichts ändern, wenn Amerikaner und Briten auf den Hoheitsrechten des Eroberers beharren, die ihnen ja auch niemand ernsthaft bestreitet, wie das gerade die Genfer Gespräche der fünf UN-Vetomächte gezeigt haben? Folglich wird eher früher als später eine vom Sicherheitsrat sanktionierte Peace-Enforcement-Mission in Stellung gehen und der Scheußlichkeit imperialer Eroberungslust die multilateralen Weihen gönnen. Russland und Frankreich haben der Blockade einer neuen Irak-Resolution bereits abgeschworen. China verfolgt den Verschleiß Amerikas mit aufgeschlossenem Interesse, ohne sich im Sicherheitsrat als Widersacher zu exponieren.
Der abendländisch-westlichen Werte- und Staatengemeinschaft bleibt also gar nichts anderes übrig, als sich der kollektiven Verantwortung zu stellen, die mit der ersten, im 21. Jahrhundert zurückeroberten Kolonie zu schultern ist, wenn sich schon nicht verhindern ließ, dass die amerikanische Führungsmacht in einer Region vorprescht, die jedes Versagen als verheerende Niederlage quittiert. Zwar hat der Sieger den Irak-Krieg offiziell für beendet erklärt, aber verlieren kann er ihn deshalb immer noch: Nicht auf dem Schlachtfeld, aber im ganzen Land. Der Rückzug aus Vietnam vor 30 Jahren würde zur Bagatelle schrumpfen, müssten die Amerikaner den Irak räumen, weil sie der Widerstand aus dem Untergrund zermürbt. Was wäre der ganze schöne "Krieg gegen den Terror" dann noch wert? Und was erst das ideologische Dogma vom Demokratieexport, wenn die Barbaren und Schurken wieder machen dürfen, was sie wollen? Für das Selbstverständnis des Westens als globaler Ordnungsfaktor ist das keine Prestigefrage mehr. Da wird es existenziell, und alle tragen des einen Last. Verhandlungssache sind allein die Konditionen, unter denen willige Koalitionäre und unsichere Kantonisten ihren Tribut entrichten. Dem verdankt Schröder seinen Auftritt bei Bush.
Da allerdings eine solche Weltordnung so gut wie nichts mit Weltorganisation im Sinne der Vereinten Nationen zu tun hat, kann die UNO nur abwinken und sich bestenfalls als humanitärer Dienstleister empfehlen. Genau das hat Kofi Annan zum Ausdruck gebracht. Die Welt wird dadurch nicht von heute auf morgen in Verwahrlosung geraten, sie hat sich allerdings darauf einzurichten, eine läuternde, ausgleichende, sühnende und überparteiliche Macht aufzugeben und irgendwann wahrscheinlich auch das Gespür dafür, Derartiges zu ihrem eigenen Besten gebraucht zu haben. Wenn der Irak keinen Anlass zur Umkehr bietet, was dann? Die Vereinten Nationen werden nicht als Institution geopfert, aber als Prinzip. Sie stehen mitten in einem Funktionswandel, weil die Erfahrungen jenes lichten historischen Moments, die einst zur ihrer Gründung führten, nur noch eine Fußnote der Geschichte wert scheinen.
Wäre Gerhard Schröder auf der Höhe dieser Tragödie, müsste er - bevor über Handreichungen für Bush auch nur nachgedacht wird - überzeugende Antworten auf etliche Fragen verlangen: Wann beginnt der anglo-amerikanische Rückzug, wann ist er abgeschlossen? Wenn Wiederaufbauhilfe geleistet wird, wie kommt sie dem irakischen Staat zugute? Welche Regierung in Bagdad - in welchen Stadien und mit wessen Hilfe gebildet - entscheidet über deren Gebrauch? Bieten die USA Garantien, damit sich der Fall Irak nicht als Fall Syrien oder Fall Iran wiederholt?
Weil Gerhard Schröder auf der Höhe der Zeit sein will, stellt er diese Fragen natürlich nicht. Die normative Autorität und die autoritären Normen der westlichen Führungsmacht stehen über den Rechtsnormen der Vereinten Nationen. Das wussten der sozialdemokratische Kanzler und sein grüner Koalitionspartner schon 1999 mit dem Kosovo-Krieg zu würdigen. In einer Zeit der folgsamen Gehirne und öffentlichen Lügen ruft und schweißt das Irak-Desaster Amerikas Partner nun erst recht ins Glied. Wer das bezweifelt, sollte sich folgendes vor Augen halten. Gesetzt den Fall, man hätte vor Monaten Hans Blix und seine Inspektoren nicht als Komparsen eines Vorkrieges missbraucht, sondern ihnen ausreichend Raum und Zeit zugestanden, um ihre Untersuchungen zu beenden: Wäre dann nach Vorlage ihres Abschlussberichts - bis heute wurden bekanntlich keine Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden - die an den Golf gewuchtete Militärmaschine der USA zurückgeschleppt worden? Wären Schröder, Chirac oder Putin in Washington vorstellig geworden, um genau das einzuklagen, laut und öffentlich? Es bestünde noch Hoffnung für die Vereinten Nationen, wäre letzteres alles andere als eine rhetorische Frage.
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