Das ist doch endlich einmal Erziehungsdiktatur mit Unterhaltungswert. Ein Kanzler buchstabiert seinem Parteivize vor laufender Kamera gewissermaßen die sonderbare Politische Ökonomie Ost, die der vielleicht besser kennt, als seinem Parteichef lieb sein kann.
Mit der Lässigkeit des allen Eventualitäten trotzenden Conferenciers hat Gerhard Schröder im jüngsten ARD-Bericht aus Berlin seinem störrischen Genossen Bescheid gestoßen: Der habe mit seinem Bild vom "Osten auf der Kippe" die Lage schlechter geredet als sie in Wirklichkeit sei und leider die über Gebühr aufgeblähte Baubranche als Konjunkturbarometer verabsolutiert. Eigentlich verhinderten nur strukturelle Probleme den Aufschwung. War das ein erzieherisches Schlusswort?
Der Bundestagspräsident hätte allen Grund, auf diese Zumutung außerhalb sozialdemokratischer Parteiräson zu reagieren. Vermutlich wird er es bei einem zaghaften Versuch belassen, wenn überhaupt. Schließlich ist der "Aufbau Ost" zur Chefsache erkoren und ein blässlicher Ostbeauftragter wie ein Passepartout auf diese Begehrlichkeit zugeschnitten. Bleibt Thierse couragiert im Sattel und reitet weiter gegen Schröders Gewohnheit, Parolen für Politik zu halten, demontiert er dessen Wahlaussichten im Osten 2002 (weil er ignorante Politik demaskiert). Steigt er vom Pferd und gibt auf, geschieht dasselbe. Denn - und hier lag wohl ein entscheidendes Motiv für die nach wie vor heftig debattierten Thesen - geht man danach, wie sich derzeit die Wählerpotenziale in Deutschland sortieren, darf die SPD sicher sein, dass sie im Osten die nächste Bundestagswahl gewinnt oder verliert. Im Westen zeigen sich die Anhängerschaften der Parteien auffallend veränderungsresistent - trotz oder wegen der CDU-Affären. Jedenfalls scheint die SPD hier kaum gebeten, auf fremder Weide zu grasen. Sie muss es im Osten versuchen - sie muss dort mehr wirtschaftliche Gewinner politisch gewinnen und sich zugleich als Anwalt der Verlierer empfehlen. Das heißt, Nichtwähler aktivieren, jenes kleine Segment überzeugen, das zwischen PDS und CDU floatet, vor allem aber massiv die Stammwählerschaft der Demokratischen Sozialisten abbaggern. Es fiel schon auf, wie Thierse in seinem Papier fast buchstabengetreu zitiert, was die PDS seit Jahren propagiert - denkt man nur an ihr "Rostocker Manifest" von 1998. Momentan reagiert die Partei darauf erstaunlich abgeklärt oder passiv, was wohl auch damit zu erklären ist, dass ihre Führung wieder einmal mit sich selbst beschäftigt scheint. Thierse operiert, wenn er weiter gegen die Arroganz seiner West-Genossen opponiert, in dieser Hinsicht also keineswegs chancenlos. Dennoch sind die derzeitigen Führungsschwächen Schröders für den Dissidenten keine Erfolgsgarantie. Für die Belange des Ostens schon gar nicht.
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