Topografie der Nötigung

Brisante Standortwahl Die G8 tagen in Tuchfühlung mit der Grenze zu Russland. Da lässt sich der Kurilen-Konflikt nicht ausblenden

Genau genommen ist der Schauplatz dieses G8-Gipfels für Russland eine Provokation. Auch wenn die japanische Regierung abwiegelt: Wer hinter der Standortentscheidung für dieses Treffen einen allzu plumpen Vorsatz vermute, der vergesse, dass im Juni 2007 beim G8-Gipfel von Heiligendamm niemand gegen Hokkaido interveniert habe. Der bestreite im Übrigen auch, was japanischer Diplomatie nicht zu bestreiten sei: Höflichkeit und Feingefühl. Dennoch lässt sich das grobe Raster der diesjährigen Gipfel-Topografie nicht übersehen. Wenn die Staatschefs der G8 ab 7. Juli tagen, steht ihnen der Kurilen-Konflikt, den die Japaner seit über 60 Jahren mit der Sowjetunion beziehungsweise Russland austragen, buchstäblich vor Augen. Kaigara - eine der Habomai-Inseln, die zu der bis heute russisch verwalteten Kurilen-Kette gehören - liegt nur vier Kilometer von der Ostküste Hokkaidos entfernt, das gleichfalls unter russischer Hoheit stehende Eiland Kunashiri zehn.

Wann, wenn nicht jetzt, muss Japan Gerechtigkeit widerfahren, flüstern Zeitungen wie Sankai Shimbun oder Kahoku Shimpo seit Wochen. Was könnte geeigneter sein, als das Weltereignis G8 in Anspruch zu nehmen, um eine Heimkehr der "nördlichen Territorien" (so werden die vier umstrittenen Kurilen-Inseln Etorofu, Kunashiri, Shikotan und das Habomai-Archipel in Japan genannt) zu beschleunigen? Ist der Zweite Weltkrieg nicht lange vorbei? Sind seine Ergebnisse noch haltbar, wenn sie uns demütigen?

Der Gipfel wird sich dieser Offensive eines ambitionierten Revisionismus kaum verweigern können. Pikanterweise hat das US-Außenministerium kurz vor dem G8-Meeting auf Hokkaido eine Dokumentation veröffentlicht, bei der ein Zeitstrahl über den diplomatischen Umgang mit der Kurilen-Frage aufklärt. Er reicht bis zum Juni 2007 und trägt an dieser Stelle den Vermerk - G8-Gipfel Heiligendamm. Wohl zur Erinnerung daran, dass man sich vor einem Jahr bereits intern mit dem Thema beschäftigt hat und 2008 beim quasi nachgereichten Lokaltermin Gleiches ansteht. Schon aus Respekt vor dem Gastgeber.

Ein Blick zurück. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges war die Sowjetunion, wie beim Treffen von Jalta im Februar 1945 den Alliierten zugesichert, auf Seiten der USA in die Kämpfe mit der japanischen Armee eingetreten und hatte die gesamte Kurilen-Kette besetzt. Als freilich mit dem Vertrag von San Francisco 1951 Japans Nachkriegsschicksal definitiv geregelt werden sollte, tobte der Korea-Krieg, was die UdSSR bewog, das unter amerikanischer Federführung geschlossene Abkommen nicht zu unterschreiben. Nippon gab darin zwar alle Ansprüche auf die Kurilen auf, fand sich aber dadurch getröstet, dass deren Grenzen nicht exakt definiert waren. Die Vereinigten Staaten machten sich bald zum Anwalt der japanischen Lesart: Auf die Habomai-Inseln wie auch Shikotan, Kunashiri und Etorofu sei in San Francisco nicht verzichtet worden. Am 19. Oktober 1956 war denn auch einer Gemeinsamen sowjetisch-japanischen Erklärung zu entnehmen, es könne ein Junktim geben: Sollten beide Staaten einen Friedensvertrag schließen, würden Shikotan und das Habomai-Archipel wieder Japan überlassen. Was seinerzeit als möglicher Ausweg erschien, erwies sich später als toter Punkt und das über Jahrzehnte hinweg.

Präsident Gorbatschow wollte 1991 bei seinem Tokio-Besuch entkrampfte Beziehungen mit Japan, doch ein "Ausverkauf in Fernost" kam für ihn nicht in Betracht. Boris Jelzin gestand den Japanern 1993 zu, es müsse über die vier Inseln als Verbund entschieden werden, doch ein Friedensvertrag gehe vor. "Wir halten einem solchen Vertrag weiter für denkbar", sagt heute Außenminister Lawrow, doch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges "dürfen nicht erschüttert" werden.

Vor dem Besuch von Premier Fukuda Ende April in Moskau gab es zwar ein lautes publizistisches Vorspiel, nur deutete nichts darauf hin, dass man die Kurilen-Frage plötzlich regeln könne. Stattdessen galt die Formel, der Dissens im Territorialkonflikt behindere keinen Wirtschaftskontakt. Wie sonst ließe sich erklären, dass jedes japanische Großunternehmen eine Filiale in Moskau unterhält.

Als Yasuo Fukuda Russland wieder verließ, war die Resonanz so verhalten wie selten nach einem Gipfel dieses Kalibers. In der Kurilen-Frage blieb der tote Punkt Maß aller Dinge. Immerhin hatte Wladimir Putin den Vorschlag erneuert, die umstrittenen Inseln künftig als "gemeinsamen Besitz" zu betrachten. Mochte Japans Premier dies als möglichen Kompromiss empfinden, geißelten es die neonationalistischen Überzeugungstäter in der Armee und den konservativen Denkfabriken um Shintaro Ishihara, den Autor des Bestsellers The Japan That Can Say No, als offenen Landesverrat, eine solche Variante auch nur in Erwägung zu ziehen. Für diese Samurai in der Warteschleife bleibt es dabei: Der japanischen Regierung bietet sich mit dem Gipfel auf Hokkaido eine Plattform wie nie zuvor, den Kurilen-Konflikt zu internationalisieren.

Ein fragwürdiges Ansinnen und ein gefährliches obendrein, liegt ihm doch der Wille zugrunde, territoriale Realitäten zu korrigieren, die nach 1945 in diesem Teil der Welt entstanden und vertraglich geregelt sind. Es wäre das erste Mal, würde das Machtforum der G8 dazu missbraucht, Gebietsansprüche gegen einen G8-Staat geltend zu machen. Von "kämpfender Diplomatie" hatte im Dezember 2006 mit Shinzo Abe einer der Vorgänger von Premier Fukuda gesprochen, als er mit der Bestellung des ersten japanischen Verteidigungsministers seit 61 Jahren daran ging, die Friedensverfassung von 1947 zu revidieren, die einst jede außenpolitische Handlung unter den Vorbehalt der Friedfertigkeit und Zurückhaltung stellte.

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