Tour de France

1918 – 2018 Der französische Präsident Emmanuel Macron bereist eine Woche lang die Schauplätze des Ersten Weltkriegs. Nebenbei schwört er Europa auf einen harten Wahlkampf ein
Bundespräsident Steinmeier ist erster Kronzeuge für Macrons Erinnerungsfuror
Bundespräsident Steinmeier ist erster Kronzeuge für Macrons Erinnerungsfuror

Foto: Guido Bergmann / Getty Images

Emmanuel Macron offenbart einen feinen Sinn für Symbolik, wenn er eine Woche lang nicht nur Schauplätze des Ersten Weltkrieges in Frankreich – Schlachtfelder, Soldatenfriedhöfe, Gedenkstätten – aufsucht. Der französische Präsident will dort nicht nur erinnern, sondern auch regieren, wenn etwa in der Ardennenstadt Charleville-Mézières eine Kabinettssitzung anberaumt ist. Eine Woche lang kann Macron das Image des kaltblütigen Technokraten ablegen, der seine Landsleute maßregelt, wenn sie nicht voller Selbstentsagung als Arbeitssklaven zur Verfügung stehen.

Man kann gewiss darüber streiten, ob mit dieser "Tour de France 1918" der Europawahlkampf 2019 eröffnet wird. Eine Richtung wird ihm auf jeden Fall vorgegeben: Aus der Geschichte lernen, heißt begreifen, wohin zügelloser Nationalismus, trunkener Übermut und Glaube an eigene Unfehlbarkeit führen. Das gilt nicht nur für die Kriegsschuld der Hohenzollern-Monarchie und ihrer Parteigänger in Deutschland bis hin zur SPD, sondern genauso für alle Großmächte Europas, die 1914 nicht vor dem Verbrechen des Krieges am eigenen Volk zurückschreckten.

Luxus des Vergessens

Mit der Neuwahl des EU-Parlaments Mitte Mai 2019 wird es voraussichtlich einen Ansturm rechtspopulistischer, nationalkonservativer, teils faschistoider Parteien auf die EU-Legislative geben. Spiegelt das Wahlergebnis annähernd augenblickliche Stimmungen und Kräfteverhältnisse in Schweden, Finnland und Dänemark, in Belgien, Italien, Polen, Ungarn, Tschechien oder eben auch Deutschland und Frankreich, dann werden EU-Skeptiker und -Gegner sich dort mehr Gehör verschaffen, wo das vereinte Europa gestärkt, nicht gestört oder gar zerstört werden sollte. Auch wenn die EU in ihrem Zustand und ihrer neoliberalen Ausrichtung kaum dazu anspornt, als Staatenassoziation verteidigt zu werden, so bleibt sie doch eine Bastion gegen einen nationalistischen Furor, der neue Feindschaften beschwört.

Emmanuel Macron hat im April vor dem EU-Parlament erklärt, man solle nicht vergessen, wie einzigartig doch das "Modell Europa" sei. Dies gelte besonders in Straßburg und Brüssel, wo sich in und mit dieser EU-Kammer „die vielen nationalen Interessen um den Tisch der Demokratie versammeln. Zerstören wir dieses Modell nicht“. Er gehöre zu einer Generation, die keinen Krieg erlebt habe. Und diese Generation leiste sich gerade den Luxus zu vergessen, was die Vorfahren durchlebt und durchlitten hätten.

340.000.000.000 Dollar

In der Tat, für den Ersten Weltkrieg mussten 65 Millionen Soldaten in die Schützengräben, zehn Millionen fielen, mehr als 21 Millionen wurden verwundet und verstümmelt, konnten nie wieder in ein Leben zurückkehren, wie sie es einmal geführt hatten. Viele mussten in den Krieg ziehen, als sie 18 oder 19 Jahre alt waren und begannen, das Leben zu lieben. Stattdessen mussten sie darauf schießen, wie es Erich Maria Remarque in seinem Roman Im Westen nichts Neues (1929) in der Person des Gymnasiasten Paul Bäumer zeigt.

Der Massenmord an der Marne, an der Somme, in Verdun, in Ostpreußen, an den Masurischen Seen, am Bug, in Przasnysz – im Westen und Osten und Süden Europas kostete 186.000.000.000 Dollar. Als die Waffen endlich schwiegen, am 11. November 1918, waren die kriegführenden Völker um 340.000.000.000 Dollar ärmer. Wieviel ging an Zukunft verloren, von der man nie erfuhr, dass es sie hätte geben können? Würde man auf vergleichbare Zahlen des Zweiten Weltkriegs zurückgreifen, wäre die Bilanz noch erschütternder und die Erkenntnis niederschmetternder, dass nichts aus der Geschichte gelernt, sie um so inniger und fanatischer verdrängt wurde, wenn das politischem Kalkül genügte.

Führung und Hegemonie

1984 reichten sich Helmut Kohl und François Mitterand vor den mit einem Blick nicht zu erfassenden Reihen der Kreuze und Gräber auf dem Schlachtfeld von Verdun die Hände. Gilt das noch? Macron hat den deutschen Präsidenten und die Kanzlerin für seine Woche der Erinnerung nach Straßburg bzw. Compiègne, dem Ort des Waffenstillstandes von 1918, eingeladen. Sie bilden gewissermaßen Ausgangs- und Schlusspunkt des Gedenkens.

Frankreich weiß aus der eigenen Geschichte, wie eine Republik ohne Republikaner der Todfeind ihrer selbst und dem Untergang (siehe 1940) geweiht sein kann. Die Annahme mag eine Unterstellung sein – oder ist es nicht, dass Macron womöglich bezweifelt, bei der absehbaren Demission Angels Merkels könnte Deutschland in Muster zurückfallen, die mehr Hegemonie als Führung in Europa nahelegen. Die Mission einer ausgleichenden Schirmherrschaft wäre dann einschneidender in Frage gestellt, als das in den vergangenen Jahren der Fall war.

Im Interview mit der Zeitung Ouest-France verglich Macron vor wenigen Tagen die aktuelle Situation in Europa mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als ein ähnlicher Hang zum Nationalismus – angefüttert durch Ängste und einer ökonomische Misere – den Kontinent erfasst habe.

Interessen versus Vernunft

Der damalige US-Präsident Woodrow Wilson hatte sich vor 100 Jahren einen Frieden ohne Sieger und Besiegte vorgestellt. Aber weil es mit dem Krieg zuvor Sieger und Besiegte gegeben hatte, war das nicht möglich. Oder wurde bewusst verhindert. Wilson scheiterte besonders an Frankreich, das Deutschland für immer als potenziellen Angreifer und Eroberer ausgeschaltet sehen wollte. Damals war das nachvollziehbar, aber von nationalen Interessen statt übergreifender Vernunft bestimmt, sodass der „alte, grausige Schrei nach Krieg“, wie Alfred Döblin in seiner Romantetralogie November 1918 schreibt, damit nicht verstummen konnte. Und sich von Neuem ausbreitete und von Neuem Gehör fand.

Auch das sollte erinnert werden, darüber sollte Macrons „Tour de France“ nicht hinweggehen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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