Treibhaus des Todes

RUANDA 1994 Als zivilisierten Nationen das Leben Hunderttausender wie Sand durch die Finger rann

Nachdem im Frühjahr 1994 die Massaker der Hutu-Extremisten an ruandischen Tutsi nicht mehr geleugnet werden konnten, vermied es die Clinton-Administration weiterhin, in ihren Statements das Wort "Genozid" zu gebrauchen. "Aufgrund der vorliegenden Informationen müssen wie annehmen, dass es ethnische Säuberungen gibt ..." hieß es stereotyp bei Briefings im State Department. Wenn danach gefragt wurde, wie viel Tote es geben müsse, um von einem "Genozid" zu sprechen, hatten die Sprecher die Formel parat: "Ich bin nicht in der Lage, darauf zu antworten ..."

Über den Sinn dieser feinsinnigen Zungenübung bestand kein Zweifel: Weder die Vereinten Nationen, schon gar nicht die USA, wollten sich in die Pflicht nehmen lassen, etwas zu unternehmen. Die Reduzierung des UN-Kontingents (UNAMIR/*) in Ruanda durfte nicht als zynische Absurdität erscheinen, sondern als notwendiger Schritt, da es keinen "Völkermord", sondern lediglich einen "Bürgerkrieg" gab, der die Blauhelm-Mission daran hinderte, ihr Mandat wahrzunehmen.

Anfang Mai 1994 - 20 Tage nach Beginn der Massenexekutionen durch die Hutu-Extremisten (Interahamwe-Milizen) - war es noch nicht zu spät. Hunderttausende Tutsi hatten es geschafft, sich in Einrichtungen der Katholischen Kirche zu retten: In Klöster, Missionsschulen, Hospitäler. 8.000 waren allein ins Katholische Seminar von Cap Gui bei Kigali geflüchtet. Doch diese Refugien nahmen immer mehr den Charakter von Konzentrationslagern an. Die Opfer richteten verzweifelte Bitten an eine gleichgültige Welt. Ein 40jähriger Tutsi aus dem Camp von Cap Gui sagte am 9. Mai 1994 einem belgischen Fernsehteam: "Sie (die Hutu-Milizen - die Red.) greifen uns an, kommen herein, schleppen alt und jung aus der Mission und töten sie draußen mit Macheten ...."

Mitte Mai 1994 schien der UN-Sicherheitsrat endlich zu begreifen, was da vorging, und signalisierte die Bereitschaft, den vom Tode Bedrohten zu helfen. "Zutiefst erschüttert über die Tragödie" wurde beschlossen, nun doch 5.500 Blauhelm-Soldaten nach Ruanda zu schicken, damit Zivilisten evakuiert werden konnten. In Wirklichkeit aber sollte diese Entscheidung zur Camouflage für einen letzten Verrat werden. Es wurde vermieden, einen Zeitplan für die Stationierung des UN-Korps festzulegen. Insider wussten sofort, damit wurde ein gigantischer Betrug inszeniert. Vor allem die USA dachten nicht daran, die Mittel zur Verfügung stellen, um den UN-Plan auszuführen. So wurden beispielsweise gepanzerte Fahrzeuge gebraucht, um die Blauhelm-Truppen zu transportieren. Die UNO hatte durch die kurz nach Beginn der Massaker auf ein Minimum herunter gefahrene UNAMIR-Mission nur noch fünf Schützenpanzer in Ruanda. Das New Yorker Hauptquartier versprach zwar, 50 weitere Fahrzeuge anzumieten, aber die US-Armee, die beauftragt war, diese zu liefern, fürchtete noch immer, in einen schwer kalkulierbaren Konflikt zu geraten, und nutzte jede sich bietende Gelegenheit für Verzögerungen.

James Wood, seinerzeit Ministerialdirektor im US-Verteidigungsministerium, beschrieb in einem Interview mit dem Fernsehkanal arte, wie sabotiert wurde: "Es war eine Posse, dass immer neue Details auftauchten, die entschieden werden mussten, um die verdammten Fahrzeuge auf den Weg zu bringen. Man biss sich an solchen Fragen wie den genauen Bedingungen der Mietüberlassung fest, am Anstrich und wer ihn bezahlen sollte, welcher Schriftzug anzubringen wäre. Mit diesen Debatten verging ein Tag um den anderen, während Tausende von Menschen starben." Schließlich lieferte die US-Armee die Fahrzeuge, allerdings nicht nach Ruanda, sondern ins benachbarte Uganda, wo sie bis zum Ende der Massaker auf dem militärischen Teil des Flughafens von Kampala vergessen wurden.

Am 4. Juli 1994, mit dem Einmarsch der von Tutsi geführten Patriotischen Front (FPR) in der Hauptstadt Kigali, war der Völkermord ebenso vorbei wie die Illusion, die UNO wäre in der Lage, derartige Gräuel zu verhindern. Zwischen dem 5. April und dem 4. Juli 1994 konnten die Hutu-Extremisten unbehelligt 800.000 wehrlose Menschen töten - 800.000 in 90 Tagen.

Im März 1998 besuchte Bill Clinton Ruanda für wenige Stunden. In seiner Rede auf dem Kigali-Airport gebrauchte er den Begriff "Genozid" nun genau zwölf Mal.

(*) Die United Nations Assistance Mission for Ruanda.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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