Tugend, Toleranz und Totentanz

Kommentar Islamisches Morgengrauen am Bosporus

Wie hätte die EU-Zentrale reagiert, wäre in Bratislava kürzlich ein Wahlsieger namens Vladimir Meciar ausgerufen worden, der zu allem Überfluss auch noch seine Vorliebe für eine EU-Mitgliedschaft der Slowakei entdeckt? Ein Politiker, der bis dato als schmissig-strammer Nationalist galt, aber der Nation nun - Konjunktur und Stimmung gehorchend - die europäischen Weihen empfiehlt. Hätte man ihn abweisen dürfen? Brüssel blieb die Verlegenheit einer Entscheidung erspart, Meciar hat die Wahlen bekanntlich verloren.

Aber schon stellt sich eine ähnliche Frage: Wie soll man als EU mit dem Wahlsieger Tayyip Erdogan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Türkei umgehen? Erdogan hat mitnichten als Apologet eines abendländischen Werteverschnitts triumphiert, sondern als Galionsfigur eines nationalreligiösen Konservatismus. Selbstverständlich ist der AKP-Führer soweit von dieser Welt, dass ihm pragmatische Besonnenheiten nicht fremd sind, deren Credo lautet: Wer an Tugenden glaubt, hat auch an Nöte zu denken. Der Bedarf an EU-Nähe, wie ihn die AKP-Führung nachdrücklich bezeugt, stützt sich allerdings weder auf eine Mehrheit der Wählerschaft noch innere Überzeugung, sondern ist ökonomischem Zwang und politischer Opportunität zu danken. Es bleibt dennoch zunächst eine höchst theoretische Frage, ob in Brüssel, Paris oder Berlin dem geläuterten, moderaten Islamismus Erdogans Absolution erteilt werden sollte. Die Union hat bis 2010 einen Mitgliedsschub vorzugsweise aus Osteuropa zu verkraften, der ihr jeden Kraftakt am Bosporus verbietet. Die Türkei befindet sich in einer solch desolaten Wirtschaftslage, dass es eine rein virtuelle Übung ist, über eine mögliche EU-Aufnahme nachzudenken. Brüsseler Toleranz dürfte also durch eine AKP-geführte Regierung in Istanbul nur mäßig strapaziert werden, zumal als sicher gilt, das Erdogans Partei nicht in der Nachfolge der islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah) des Necmettin Erbakan steht, die 1996/97 regierte und von der Generalität aus Gründen der republikanisch-säkularen Staatsräson aus dem Amt gedrängt wurde.

Viel pikanter ist die radikale Wende von Ankara hingegen für die Amerikaner, die ihren Anti-Terror-Feldzug - nicht zuletzt einen Krieg gegen Irak - ohne den türkische Alliierten schlecht führen können. Aber Kooperation mit einem islamischen Premier aus einer islamischen Partei im Kampf gegen die islamistische Verschwörung von al Qaida Co.? Zwar obliegen militärische Entscheidungen in der Türkei dem Nationalen Sicherheitsrat und damit der Armee, doch eine Regierung mit einer absoluten Parlamentsmehrheit lässt sich nicht als zweitklassiger Kommis behandeln, wenn in der Nachbarschaft ein barbarischer Totentanz aufgeführt werden soll. Und wie ein stoischer Pro-Amerikaner wirkte Tayyip Erdogan bisher eher nicht.

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