Am Ende trägt jede Arbeit ihren Lohn in sich selbst, auch wenn der praktische Nutzen auf den ersten Blick begrenzt scheint. Trifft solches zu auf den Aufritt der deutschen Außenministerin am 16. Januar in Den Haag? Annalena Baerbock hat am Ort des Internationalen Strafgerichtshof (ICC) ein „Sondertribunal“ verlangt, das russische Kriegsverbrecher anklagt und verurteilt.
Dies folgt vermutlich der Erkenntnis, dass der ICC selbst für eine Strafverfolgung dieser Art kaum in Anspruch genommen werden kann. Da Russland so wenig wie die USA, China, Israel oder auch die Ukraine das Römische Statut des ICC von 1998 anerkennt, wird es keine Angeklagten an Den Haag ausliefern. Es sei denn, fremde Macht erzwingt das. Danach sieht es in Russland vorerst nicht aus. Ohnehin
. Ohnehin hat es nach den US-Invasionen in Afghanistan 2001 bis 2021, im Irak 2003 und im NATO-Verbund gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 nicht einmal den Versuch gegeben, überhaupt Ermittlungen zu beginnen. Baerbocks Parteifreunde haben das seinerzeit als Mitregierende in den Kabinetten des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder nie verlangt. Dass die Zahl der zivilen Opfer von Kriegshandlungen in diesen Fällen teilweise in die Hunderttausende ging, tat nichts zur Sache.Zeit seines Bestehens hielt sich der „Weltgerichtshof“ in den Niederlanden vor allem dann an Verletzungen des Völkerrechts sowie an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn diese Vergehen afrikanischen Politikern und Warlords anzulasten waren. Die auf westliche Interventionsmacht zurückgehenden Zivilisationsbrüche lagen außerhalb seiner Reichweite.Ruanda und JugoslawienSoll es ein Ukraine-Sondertribunal geben, wären als Muster höchstens die Ad-Hoc-Gerichtshöfe denkbar, wie sie in den 1990er Jahren zustande kamen, um den Völkermord in Ruanda (1994) und die während der Jugoslawien-Kriege zwischen 1991 und 1999 verübten Rechtsbrüche zu untersuchen und zu ahnden. Diese Tribunale gründeten auf UN-Resolutionen und Beschlüssen des Sicherheitsrates, denen zu entnehmen war, welches Mandat diese Kammern hatten, welcher Rechtsprechung sie folgten und welcher zeitlichen Befristung sie unterlagen. Was ist davon derzeit in Sachen Ukraine-Krieg realistisch? Ein Sicherheitsmandat wird es nicht geben, eine Resolution der UN-Generalversammlung wäre möglich, hätte jedoch keine exekutive Wirkung, sondern wäre empfehlenden Charakters.Insofern bleibt der juristische Hintergrund des Haager Aufschlags von Baerbock eher nebulös. Um so klarer tritt die politische Absicht zutage, die psychologische Kriegsführung im Interesse der ukrainischen Führung, dass man sich zuweilen fragt, welcher Regierung Baerbock eigentlich angehört, der in Berlin oder der in Kiew?Feststeht, es braucht keinen Sondergerichtshof, um Russland zu verurteilen und seine Führung zu kriminalisieren. Doch wird die damit einhergehende Stigmatisierung um so eindringlicher, wenn nicht unwiderruflich, wird ein solches Tribunal ins Gespräch gebracht. Das Ganze bedient vor allem eine Botschaft: Jede diplomatische Option ist obsolet. Mit Verbrechern verhandelt man nicht. Mit ihnen Übereinkünfte über einen Waffenstillstand zu treffen, verbietet sich. Wer sollte ihnen trauen?Kollektiver Gedächtnisverlust Dahinter stehen die Annahme und Erwartung, dem für die Ukraine mobilisierten westlichen Potenzial – ökonomisch, militärisch, finanziell und psychologisch – werde Russland auf Dauer nicht gewachsen sein. Dass es unterliege, sei nur eine Frage der Zeit. Schon jetzt werden von Ex-Bundeswehrgeneralen ukrainische Durchbruchsszenarien für den Sommer beschworen, mit denen dank der Lieferung von genügend schweren Panzern, u. a. solchen des Typs „Leopard 2“, zu rechnen sei. Welche Risiken das einschließt, muss nicht weiter erläutert werden. Damit die öffentliche Meinung als antirussische Stimmung bis dahin nicht kippt, versteht sich Baerbock stets von Neuem auf rhetorische Militanz, der ebenfalls Unwiderrufliches anhaftet.Das Erschreckende ist, wie ausgerechnet zum 80. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad eine Erinnerungslosigkeit waltet, die sich auf einen kollektiven Gedächtnisverlust verlassen kann. Es war auch im Herbst 1942 so, dass die sowjetischen Verteidiger an der Wolga von der Ausrüstung her der Wehrmacht, hauptsächlich bei Flugzeugen und Panzern, unterlegen waren.Um nicht missverstanden zu werden, Kriegsverbrechen sollten verfolgt und geahndet werden, die russischen nicht anders als die ukrainischen. Nur unterliegen Schuld und Sühne seit jeher mehr politischem Kalkül als juristischem Prinzip.