Afghanistan: Urteilen über ein geschundenes Land

UN-Report Stark eingeschränkte Grundrechte, aber weniger zivile Opfer: Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban äußern sich die Vereinten Nationen zur Menschenrechtslage im „Islamischen Emirat Afghanistan“. Ein eindeutiges Urteil ist unmöglich
Ausgabe 32/2022
Ein Jahr ist es nun her, dass die Taliban Afghanistan zurückerobert haben
Ein Jahr ist es nun her, dass die Taliban Afghanistan zurückerobert haben

Foto: Karim Sahib/ AFP via Getty Images

Es taucht allein der Begriff „De-facto-Behörden“ auf – die Vereinten Nationen vermeiden es, ein Jahr nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul von einer „afghanischen Regierung“ zu sprechen, wenn sie ihren Bericht Menschenrechte in Afghanistan veröffentlichen. Offenbar wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die neue Administration seit ihrem Antritt international keinerlei Anerkennung fand. Das hinderte die Loja Dschirga (Große Versammlung) indes nicht daran, Anfang Juli die „Übergangsregierung des Islamischen Emirats Afghanistan“ mit dem Votum von Geistlichen und Repräsentanten der Gesellschaft für legitim zu erklären.

Ansonsten fällt der UN-Report ein zwiespältiges Urteil. Einerseits wird erklärt: „Die Menschenrechtslage wurde durch die von den De-facto-Behörden ergriffenen Maßnahmen verschlimmert, um abweichende Meinungen einzudämmen und Grundrechte der Afghanen einzuschränken.“ Zugleich heißt es, dass – seit im größten Teil des Landes nicht mehr gekämpft werde – die Zahl ziviler Toter merklich zurückgehe. Jedoch seien die neuen Autoritäten nicht in der Lage, „die Sicherheit ihrer Bürger, besonders religiöser und ethnischer Minderheiten, zu garantieren“. Laut UN wurden zwischen dem 15. August 2021, als Kabul eingenommen war, und Anfang Juni 2022 etwa 700 Zivilisten getötet und mehr als 1.400 verletzt. Sie wurden Opfer von Anschlägen des Islamischen Staates (IS) oder starben, wenn Minen und Granaten explodierten, die bisher nicht entschärft wurden.

Die UN beklagen weiter die drakonische Bestrafung von Afghanen, denen „moralische Verbrechen“ wie außerehelicher Geschlechtsverkehr vorgeworfen würden. Die Taliban-Regierung lässt das durch ihren Sprecher Zabihullah Mujahid als „Propaganda“ dementieren. Es gäbe keine willkürlichen Festnahmen. Mujahid: „Wenn sich jemand dessen schuldig macht, gilt er als kriminell und verstößt gegen die Gesetze der Scharia.“ In Anspielung auf das Urteil der UN über das autoritäre Afghanistan erinnert Mujahid an den Facebook-Ausschluss für den Kanal Radio Television Afghanistan und die Nachrichtenagentur Bakhtar. „Das Blockieren der Social-Media-Konten zeigt vor allem eines: Intoleranz.“

Gezieltes Töten

Die UN-Autoren hatten ihre Analyse schon abgeschlossen, als es in Kabul einen Vorfall gab, der es verdient hätte, ebenfalls untersucht zu werden, um mehr über Menschenrechte am Hindukusch zu erfahren. Am 2. August wurde der 71-jährige Ägypter Aiman az-Sawahiri als Emir von al-Qaida durch eine US-Drohne getötet. Zuletzt fristete das islamistische Netzwerk in Afghanistan – ganz anders als Filialen des Islamischen Staates – eher ein Schattendasein. Die nationale Sicherheit der USA wurde davon nicht bedroht. Trotzdem geriet az-Sawahiri ins Visier eines ferngesteuerten Geschosses. Was ihm geschah, erfüllt den Tatbestand des gezielten Tötens oder einer präventiven Hinrichtung. Es verletzt eine „regelbasierte Ordnung“, die nicht nur der Ukraine-Krieg außer Kraft setzt.

Stunden nach dem Tod az-Sawahiris äußerte Ex-Präsident Barack Obama: „Die Nachrichten der heutigen Nacht zeigen, dass man den Terrorismus auslöschen kann, ohne in Afghanistan Krieg zu führen.“ Ein schwer erträglicher Zynismus. Am Einsatz von Drohnen, die immer wieder Unbeteiligte trafen, herrschte unter Obama kein Mangel. Vielleicht hätte er der Regierung Biden besser zivilisatorischen Fortschritt attestiert. Im Unterschied zur Erschießung von Osama bin Laden am 2. Mai 2011 im pakistanischen Abbottabad durch ein US-Kommando wurde der Angriff auf az-Sawahiri nicht live ins Weiße Haus übertragen. Obama und Außenministerin Clinton schienen einst Wert darauf zu legen, dass sich der kollektive Fernsehempfang „herumsprach“. Man sollte verstehen, dass es sich verbietet, mutmaßliche Täter wie bin Laden vor ein Gericht zu stellen und zu verurteilen. Die Entgrenzung aller Maßstäbe wurde zum Maß solcher Tugend.

Kurz vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands im Frühjahr 1945 sagte Winston Churchill über die Nazigrößen, ihm wäre es am liebsten, man würde „die Bastarde“ kurzerhand erschießen. Doch wollten die Alliierten keineswegs mit ihren Feinden auf einer Stufe stehen. Erst nach dem Urteil des Nürnberger Tribunals sollten sie zu Kriegsverbrechern erklärt und bestraft werden. Das Recht triumphierte über dessen Missachtung, die Zivilisation über Barbarei, die Gesittung über Gesinnungstäter. Das ist lange her.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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