Unrecht beruft sich auf Unrecht

Gaza-Flotte Der Sturm auf die Hilfsschiffe im Vorjahr war rechtmäßig, so der Befund offizieller Untersuchungen in Israel. Die Beziehungen zur Türkei sind nun endgültig geschreddert

Das Urteil der Turkel-Kommission schien von Anfang an keine Frage des Gewissens, sondern der Überzeugung: Regierung und Streitkräfte sollten nicht nur – sie müssen geschont werden. Bei dieser heiklen Affäre gerät jeder Befund zum Präzedenzfall. Folglich befindet der pensionierte Richter Jaakov Turkel, es gab am 31. Mai 2010, als in internationalen Gewässern Schiffe mit Hilfsgütern für Gaza geentert wurden, kein Fehlverhalten und keinen Rechtsbruch. Alles andere hätte Armee, Geheimdienst und letztlich auch die Regierung Netanyahu in die Nähe eines kriminellen Verhaltens gerückt.

Im Ergebnis dieser taktischen Rücksicht beruft sich Unrecht auf Unrecht, so dass Piraterie auf hoher See, der neun Menschen zum Opfer fielen, für Recht erklärt wird. Da lässt die innere Logik israelischer Poltik gar keine Wahl: Die Gaza-Flottille aufzubringen, folgt aus dem Recht, den Gaza-Streifen unter Verschluss zu halten und auszuhungern, diese Blockade folgt aus dem Recht einer Besatzungsmacht die Besatzung aufrechtzuerhalten, solange sie will. Die wiederum hat das Recht, die Früchte 1967 und 1973 gewonnener Kriege auszukosten und Forderungen der Vereinten Nationen nach Räumung besetzter Territorien seit 45 Jahren zu ignorieren, als sei da ein selbstgefälliger Moloch mit nichts anderem beschäftigt, als Israel zu schikanieren. Zu guter Letzt steht das Existenzrecht Israels in fast jeder Hinsicht über dem Völkerrecht.

Einem doch sonst kühl und rational handelnden Politiker wie Benjamin Netanyahu müsste klar sein, mit diesem Maximalismus internationaler Isolation zu verfallen. Die gestrige Reaktion von Premier Tayyip Erdogan auf den Spruch des Turkel-Gremiums lässt befürchten, dass die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel aus einem Zustand der Zerrüttung in Feindschaft übergehen. Welches Interesse kann das Kabinett Netanyahu daran haben, ein Land, das noch vor zwei Jahren als Vermittler im Konflikt mit Syrien geschätzt wurde, derart vor den Kopf zu stoßen und alle Brücken abzureißen? Hier wird ein Recht auf Rechtsbruch kultiviert, das im Nahen Osten all jenen in die Hände arbeitet, die ihrerseits einen gewalttätigen Umgang mit dem Staat Israel für gerechtfertigt halten.

Die Turkel-Kommission hat zwar von der israelischen Regierung verlangt, humanitären Konsequenzen ihrer Gaza-Politik zu bedenken. Aber was ist diese Ermahnung wert, wenn es weiter als legitim gilt, jeden Versuch mit Gewalt zu unterbinden, die Blockade zu umgehen oder wenigstens durchlässiger zu machen. Jaakov Turkel, der Oberste Richter a. D., konnte sich offenbar dem Eindruck der ersten Reaktion von Ehud Barak nach den Ereignissen vom 31. Mai 2010 nicht entziehen. Der Verteidigungsminister hatte für den Angriff nicht nur die volle Verantwortung übernommen, sondern auch von gerechtfertigter Selbstverteidigung gesprochen. Wer das bezweifelt, kann schnell der Frage ausgesetzt sein, wie hältst du es mit dem Existenzrecht Israels? Da ändert es wenig, wenn an Bord des Hauptschiffes Mavi Marmara weder Schusswaffen noch Munition, sondern vorzugsweise Hilfsgüter gelagert waren. Welche Gefahr für Israel ging davon aus? Welche Bedrohung beschwört humanitäre Hilfe herauf? Welcher Angriff lässt sich damit führen? Wessen Existenzrecht wird damit zur Disposition gestellt? Diesen Fragen wollte und konnte die Turkel-Kommission nicht nachgehen. Das große Saubermachen blieb sie schuldig. Es kehrte ein Besen, dem mehr als nur der Stiel fehlte.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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