Wenn wir uns der Geschichte nicht stellen, wird sie sich unweigerlich gegen uns stellen. Diese Erfahrung, die mit ultimativem Nachdruck der kommunistischen Bewegung zu teil wurde, lässt sich wie eine Monstranz durch die Zeiten tragen und als Verletzbarste aller historischen Wahrheiten feiern. Letztes Ende wird sie doch der Gewohnheit der Menschen unterliegen, nur das aus ihrer Geschichte lernen zu wollen, was sie brauchen, um sich ihrer Gegenwart zu versichern.
Sollte man dem ehemaligen sowjetischen Spitzenpolitiker Alexander Jakowlew (Jahrgang 1923) wünschen, dass mit seiner Autobiographie Die Abgründe meines Jahrhunderts nicht derart "pragmatisch" verfahren wird? Das Buch empfiehlt sich auf jeden Fall als enzyklopädischer Abriss von 70 Jahren sowjetischer Geschichte und konfrontiert den Leser mit einer Lebens- und Epochenbilanz, deren immenser Tatsachenfundus nicht zuletzt dem nützlichen Umstand zu danken ist, dass der Autor jahrzehntelang im Führungszentrum der Sowjetgesellschaft tätig war - im Apparat wie in den höchsten Gremien der KPdSU.
Alexander Jakowlew, der sich vom Kommunisten zum Sozialdemokraten bekehrt fühlt, zieht einen scharfen Pflug durch den Schutt der Geschichte, von der nicht viel mehr als eine wüste Kraterlandschaft geblieben scheint, nachdem durch Russland "die Barbarei galoppierte", wie der Autor die Jahrzehnte nach 1917 beschreibt. Diese Sowjetperiode treibt ihn zu einem historischen Gesamturteil, das in einen vernichtenden Schuldspruch mündet. Leider geht die Vehemenz des Verdikts oft zu Lasten einer tiefgründigen Analyse der Ursachen.
Mit Blick auf die in Russland heraufziehende Revolution hatte Rosa Luxemburg schon 1904 in einem Traktat zu Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie in weiser Voraussicht geschrieben: "Das von dem russischen Absolutismus ekrasierte, zermalmte Ich nimmt dadurch Revanche, daß es sich selbst in seiner revolutionären Gedankenwelt auf den Thron setzt und sich für allmächtig erklärt". Jakowlew brandmarkt den ekrasierenden Absolutismus der Oktoberrevolution, indem er seitenweise Telegramme Lenins zitiert, mit denen die physische Vernichtung von Feinden der Revolution befohlen wird. Für den Autor barbarische Exzesse, bei denen nicht die "Axt der Volksvergeltung" zuschlägt, um die Revolution zu verteidigen, sondern die Bolschewiki sich als das zu erkennen geben, was sie nach seiner Auffassung immer geblieben sind: "Besessene Obskuranten", deren Klassiker nichts anderes geschaffen haben als "Handbücher für Terroristen".
Ob auch Georg Büchner damit gemeint ist? Man denkt unwillkürlich an sein Revolutionsdrama Dantons Tod, in dem ein furchtbar unerbittlicher und unerbittlich weitblickender Robespierre die Geschichte aller Revolutionen auf den Punkt bringt. "Wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab", gibt er einem revolutionsmüden Danton zu verstehen, der ihn zuvor wegen des revolutionären Terrors der Jakobiner beschworen hat: "Wo Notwehr aufhört, fängt der Mord an". Wer hat das größere Unrecht auf seiner Seite? Wer die Geschichte?
"Revolution ist Hysterie und Ohnmacht vor dem erdrückenden Gang der Ereignisse. Ein Akt der Verzweiflung, der sinnlose Versuch aus dem Stand ... all das zu überwinden, was Jahrzehnte angespannter Mühen der ganzen Gesellschaft erfordert", diagnostiziert Jakowlew mit Blick auf den Sturz Kerenskis am 7. November 1917 und die Periode des "revolutionären Terrors" der Bolschewiki. Höchst aufschlussreich ist in diesem Kontext der Verweis auf die finanziellen Transaktionen, mit denen das kaiserliche Deutschland diesem Terror seit 1915 als Geburtshelfer diente, um dem Zaren-Feind auf dem östlichen Kriegsschauplatz nach Kräften zu schaden. Gewährsmann Alexander Helphand - genannt "Parvus" - ließ Hilfsgelder direkt aus der deutschen Generalität in die Parteikasse Lenins fließen: Von 60 Millionen Goldmark ist die Rede, wo bisher nur von einem plombierten Zug gesprochen wurde, der Lenin 1917 durch Deutschland schleuste. Der Geldstrom sollte auch, wie Jakowlew fast triumphierend ergänzt, im ersten Jahr der Revolution bis zu den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk nicht versiegen.
Lenin-Uljanow selbst wird vom Verfasser als "machtlüsterner Wüstling" und "schwadronierender Halbgebildeter" regelrecht verflucht. Wer das theoretische Werk des sowjetischen Revolutionsführers einigermaßen kennt - etwa seine Philosophischen Hefte (1914/16) oder die auf einer akribischen Faktenanalyse fußende Anatomie des Imperialismus als höchstes und letztes Stadium Kapitalismus (1916) - wird diesen Totalverriss nicht nachvollziehen können. Es erstaunt ohnehin, dass Jakowlew den Begründer der Sowjetunion einerseits als prinzipienlose Kreatur abkanzelt und andererseits doch Jahrzehnte lang einer sich auf Lenin wie keinen anderen berufenden Ordnung gedient hat. Er tat dies nicht als subalterner Funktionär in irgendeinem Provinzsowjet, sondern als geschätzte Zunge und dienstbares Hirn der Nomenklatura, sprich: als Redenschreiber mehrerer Generalsekretäre der KPdSU. Dieses Geschäft ließ ihn eine Ära nach der anderen überstehen, den "Träumer" und inbrünstigen Experimentator Chrustschow, den in der Stagnation verharrenden Breschnew, den verkappten Reformer Andropow, den siechen und einem Politbüro-Kompromiss geschuldeten Tschernenko. Unter Michail Gorbatschow schafft es Jakowlew als Protagonist der Perestroika noch bis ins Politbüro. Eine Karriere der gemiedenen Brüche und des großen Sprungs zum Schluss erfährt auf ihrem Höhepunkt die "Waschung durch Freiheit", wie der Autor die 1985 begonnene "Reform des Sozialismus" nennt. Das grandiose Scheitern dieses Versuchs - auch das sei vermerkt - bis hin zur Selbstauflösung der UdSSR 1991 ist selten so fesselnd beschrieben worden wie in diesem Buch.
Alexander Jakowlew; Die Abgründe meines Jahrhunderts. Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer. Faber Faber. Leipzig 2003, 911 S., 29,90 EUR
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