Ganze 580 Tage waren es, die Lula im Gefängnis von Curitiba saß. In dieser Zeit standen Sympathisanten jeden Tag vor der Strafanstalt, um „Guten Morgen“, „Guten Tag“, „Gute Nacht“ zu rufen, ob es regnete oder 40 Grad heiß war, ob die Polizei sie vertreiben wollte oder darauf verzichtete. Wer kam, durfte Lula nie sehen. Das blieb so bis zum 8. November 2019, als sich das Oberste Gericht dazu durchringen konnte, in diesem Fall endlich auf das Gesetz zu hören. Danach durfte es für einen Verurteilten keinen Arrest geben, solange die Rechtsmittel in seinem Verfahren nicht ausgeschöpft waren. Und das waren sie nicht – Lula musste entlassen werden Es warteten Tausende, als sich eine kleine Tür neben dem Haupttor öffnete. Für Luiz Inácio Lula da Silva begann eine Gnadenfrist, die erneute Haft jäh beenden konnte.
Seit gut einer Woche nun ist es mit der Freiheit unter Vorbehalt vorbei. Die Obersten Richter haben alle vier gegen das einstige Staatsoberhaupt wegen angeblicher Geldwäsche, Veruntreuung und passiver Korruption verhängten Urteile annulliert. Zu offensichtlich und zu unverfroren hatte sich die Justiz in den Dienst eines politischen Komplotts gestellt. Das reichte bis zu nachweisbaren Absprachen zwischen Staatsanwälten und dem Richter Sérgio Moro, der Anfang 2019 auf ausdrücklichen Wunsch von Präsident Bolsonaro zum Justizminister aufstieg (und mittlerweile wegen einer Personalie zurücktrat). Ab sofort darf der 75-jährige Lula mit allen Rechten als Politiker auferstehen, was zur Kandidatur bei der Präsidentenwahl im Oktober 2022 einlädt. Brasilien wäre ein Wahlkampf der erbitterten Konfrontation beschieden, über die Jair Bolsonaro nicht unglücklich sein muss. Seine inkompetente, menschenverachtende Corona-Politik hat dazu geführt, dass derzeit 2.000 Tote pro Tag zu beklagen sind. Es werden Massengräber gebraucht, sie zu bestatten. Da Wirtschaftsverfall und Umweltzerstörung Bolsonaros Bilanz abrunden, käme dem exzentrischen Caudillo ein ideologisch aufgeheizter Grabenkampf gelegen. Lula ließe sich als kommunistischer Überzeugungstäter schmähen, der mit seinem durch und durch verkommenen Partido dos Trabalhadores (PT) das Land ruinieren werde.
Wer kann in einer solchen Schlacht als Sieger bestehen? Momentan stehen laut Umfragen 35 Prozent der Brasilianer hinter Lula, eine Lichtgestalt nach wie vor, aber kaum mehr von jener Strahlkraft wie einst, als ihn eine Woge unbändiger Hoffnung trug. Am 27. Oktober 2002, an einem heißen Abend im brasilianischen Frühling, feierten ihn Hunderttausende an der Avenida Paulista von São Paulo. Soeben hatte die Nationale Wahlkommission bekannt gegeben, dass Lula bei der Präsidentenwahl sagenhafte 61 Prozent zugefallen seien. Dreimal war er als Kandidat angetreten, dreimal hatte ihn eine Mehrheit wieder nach Hause geschickt. Und dann dieser Triumph. Es würde einen Staatschef geben, der es vom Armenviertel in Pernambuco bis zum Palácio do Planalto, der Präsidentenresidenz in Brasília, brachte. Der das Leben der sozial Deklassierten kannte, der ihnen als Metallarbeiter und Gewerkschafter im Industrierevier von São Paulo Gehör und Geltung verschaffte.
An jenem Wahltag stand fest, erstmals nach João Goulart in den frühen 1960er Jahren hatte das Land wieder einen Präsidenten der politischen Linken. Es gab Analysten, die Lulas Sieg an die Wahl des Sozialisten Allende 1970 in Chile erinnerte. Mit dem Umschwung in Brasilien, der einzigen Regionalmacht Lateinamerikas, beginne ein neuer historischer Zyklus, glaubten sie.
Nach dem Putsch reaktionärer Obristen gegen Allende im September 1973 waren Chile, Argentinien, Paraguay, Uruguay und Peru nicht nur der Geißel des Staatsterrors verfallen. Ein ganzer Kontinent wurde zum Experimentierfeld des neoliberalen Paradigmas. Als Lula am 1. Januar 2003 sein Amt übernahm, war in Brasilien die Hälfte der Erwerbspersonen im informellen Sektor beschäftigt und häufig in die Favelas verbannt, die Asyle des Drogenhandels, der Kriminalität und Trostlosigkeit. Lula hatte wohl das Unermessliche und Unabweisbare einer Mission vor Augen, als er am Tag des Sieges seinen Anhängern zurief: „Weil ganz Lateinamerika auf uns schaut und wir der Hoffnungsträger aller Lateinamerikaner sind, haben wir nicht das Recht zu scheitern.“
Eine erste Reise durch das Land führte ihn seinerzeit in die Favela Irma Dulce am Rand von Teresina, der Hauptstadt von Piaui, des ärmsten Bundesstaates. Lula sprach mit den Leuten, hatte ihre Kinder auf dem Arm und ein paar Worte für die gebrechlichen Alten, die ihn festhielten wie einen Erlöser. Er nahm die Menschen in der Würde an, die ihnen zukam. Die Euphorie des Aufbruchs wie eine sich aufbäumende Wirtschaft begünstigten Programme wie „Fome Zero“ gegen den Hunger und „Bolsa Familia“ für die so unverschämt Benachteiligten, die vermeintlich Leibeigenen der Not.
Lula wollte mit der Selbstverständlichkeit brechen, die Menschen zum Siechtum verurteilte, aber kein Revolutionär, sondern Wohltäter sein. Seine Feinde beeindruckte das kaum, im Gegenteil. Es spornte ihre Unerbittlichkeit an, als sich in Lulas zweiter Amtszeit (2007 – 2011) die Korruptionsfälle in der PT-Führung häuften. Der Präsident schien dagegen macht- und willenlos. Er wurde umso angreifbarer, je weniger sich änderte. Die Bastionen der rechten Restauration, an denen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff durch die putschartige Amtsenthebung im August 2016 zerschellen sollte, wurden auch durch die Affären der Lula-Partei gebaut. Wie viel davon lässt sich vergessen, verdrängen, verschütten, um gegen Bolsonaro mit Aussicht auf Erfolg anzutreten?
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